Lebenslauf
Blitzlicht fremder Erinnerungen
"Ihr zweites Kind hat es nicht geschafft, es tut mir leid ...", die Krankenschwester war bemüht, die Haltung zu wahren. Sie liebte ihren Job, aber diese - glücklicherweise seltenen Momente - waren undankbar und grausam. Immer dann, wenn sie einer jungen Familie sagen musste, dass ihr Kind die Geburt nicht überlebt habe. Tränen schossen der Mutter in die Augen, als die Schwester ihr ihren kleinen Sohn in die Arme gab und sie nicht wusste, ob sie sich über den lebenden Zwilling freuen, oder den toten beweinen sollte.
Eine Mischung aus unendlichem Schmerz und unglaublichen Glück sowie die vollkommene Erschöpfung nach der schweren Geburt waren das, was die Krankenschwester in den Augen der Mutter sah, doch auch der Vater konnte nicht anders, als seine kleine, halbe Familie unter Tränen zu umarmen. Die Krankenschwester wandte sich ab und ging zur Tür. Sie wollte die Trauernden nicht stören, wollte selbst nicht mehr in dieser Situation sein, konnte es nicht aushalten, diese Nachricht überbracht zu haben.
"Schwester Olga?" Sie presste die Lider aufeinander, atmete durch, dann wandte sie sich um und lächelte matt.
"War es ein Junge oder ein Mädchen?" -
"Es war ein Mädchen ..." -
"Dürfen wir sie sehen?" Doch bevor sie eine Antwort geben konnte, griff der sorgende Ehemann und Vater ein und übernahm die Beantwortung der Frage seiner Frau.
"Nein, Liebling, mach das nicht. Lass uns den Schmerz nicht noch größer machen, als er sowieso schon ist."
Sie sah ihn an, weitere Tränen rannen ihr die geröteten Wangen hinab, aber sie entschloss sich dafür, dass er recht hatte.
"Du hast Recht, es ist wohl besser so ... wenn ... wenn wir sie nicht ...", jetzt brachen die Tränen aus ihr heraus und sie schluchzte bebend. Der Vater nahm sie schnell in den Arm und hielt mit der anderen Hand das Köpfchen des Kindes, des Sohnes Nikolai, welcher überlebt hatte, damit er nicht aus ihrem Arm fiel. Schwester Olga unterdrückte ihre eigenen Tränen bei diesem Bild, blieb noch eine Sekunde stehen, dann wandte sie sich um, um endgültig aus dem Zimmer zu gehen. Sie nahm sich für den Rest des Tages frei.
.oO°*°Oo.
"Eine neue Lieferung? Die dritte jetzt, sehr schön. Sind sie alle gesund?" -
"Selbstverständlich, bitte quittieren Sie hier." "Na dann wollen wir mal ...", die Ärztin im weißen Kittel unterschrieb den Zettel, den ihr ein Mann mit weniger seriösem Aussehen auf einem Klemmbrett unter die Nase hielt. Schnell pfiff er dann nach seinen zwei Beifahrern und sie übergaben schlafende und weinende Babys - zehn an der Zahl - in die Hände von fünf weiß gekleideten Frauen und Männern, die hinter der Ärztin gestanden hatten.
"Was passiert eigentlich mit den Kindern?" fragte der "Lieferant" die Frau mit dem Stethoskop um den Hals.
"Das geht Sie nichts an. Machen Sie ihren Job, und ich mache meinen." Sie wandte sich um und ging.
Sollte er ein schlechtes Gewissen haben, weil er nicht wusste, was mit den Kindern passierte, die er überbrachte? Er nahm sie nur entgegen, fuhr sie mehr oder weniger rasant zu einem riesigen Gebäudekomplex und ging dann wieder. Das hatte er schon drei mal getan. Es gab gutes Geld. Mehr, als er sich je hätte erträumen lassen. Noch ein paar weitere Fahrten und er konnte sich schon fast zur Ruhe und auf irgendwelche Trauminseln absetzen, um seinen Lebensabend zu verbringen, dabei war er erst Mitte dreißig. Sollte er also ein schlechtes Gewissen haben?
Einen Moment blieb er noch stehen und sah durch das Glas der Schiebetüren, durch das er in einen langen, unterkühlten Flur sehen konnte und den Rücken der Ärztin sah, die ihren Mitarbeitern und den Kindern mit wehendem Kittel folgte. Was passierte mit den Kindern hier? Er sah am Gebäude hoch. Es war riesig, es war dunkelgrau und wirkte wie eine Fabrik, oder ein Bürogebäude mit vielen Fenstern. Blickdichten Fenstern, anthrazitfarben glänzend. Unheimlich. Die Wolken zogen sich über den Nachthimmel und verdeckten die Sterne und den Mond.
"Sergej, komm jetzt, ich will meine Alte daheim nicht warten lassen ...". Sergej riss sich von seinen Gedanken los, aber nicht vom Anblick des Gebäudes auf dem riesigen Gelände, das mehrerer solcher und kleinerer Gebäude beherbergte.
"Ich komm' schon ... bin schon unterwegs ...", aber er brauchte noch drei Sekunden, ließ seinen Blick über die weißen Jeeps gleiten, die hier vor den Gebäuden parkten; über die Container, die mit Lastwagen angefahren wurden und verschiedene technische Gegenstände enthielten; die riesigen Kabelrollen und den Zaun mit doppelter Sicherheit und Alarmsystem, der das Gelände umgab. Dann erst setzte er sich in Bewegung, stieg hinter das Lenkrad und fuhr los. Drei Monate später fand man seine Leiche in einem nahegelegenen Fluss. Seine Kumpel waren einige Kilometer weiter getrieben worden.
.oO°*°Oo.
Pseudonyme verraten meist mehr über ihren Träger
als der angestammte Name.
(Martin G. Reisenberg)
"AJM-2-Z03 bitte in Laboratorium Nummer Eins", eine Lautsprecherdurchsage zitierte eine 5jährige in den Raum, den sie schon kannte. Er hieß Nummer Eins, auch wenn sie nicht wirklich wusste, was eine Eins war, und sie auch nicht wirklich wusste, dass sie fünf Jahre alt war. Geburtstage wurden hier nicht gefeiert. Geschweige denn erwähnt. Das Mädchen drückte die Klinke der Tür und trat ein.
"Zoe, schön Dich zu sehen, wie geht es Dir heute?" Die Ärztin lächelte sie aus ihrem hellhäutigem Gesicht an. Die Augen lächelten nicht mit ihr. Das Kind bemerkte es nicht und strahlte.
"Sehr gut, Doctor, ich habe meine Hausaufgaben gemacht und genau beobachtet, ob sich etwas nach der Spritze verändert hat." Das Kind strahlte jetzt stolz über beide Ohren.
"Sehr schön, und? Hat sich etwas verändert?" Die Frau schien sehr freundlich, sie war immer freundlich zu Zoe, sie war auch immer freundlich zu den anderen Kindern.
"Nichts", antwortete es, als wäre es ein gutes Ergebnis. Das Lächeln der Frau erstarb und sie tauschte einen Blick mit einem Mann in schwarz aus, den Zoe erst nicht gesehen hatte. Er wirkte unterkühlt, sie mochte ihn nicht. Er war immer mal wieder da, oftmals lagen sie beide nebeneinander auf verschiedenen Liegen und ihnen wurden beide Spritzen gegeben.
"Ist das schlimm?", Zoe wurde unsicher ob der Mimiken der beiden Erwachsenen.
"Nein ... nein, natürlich nicht. Wir hätten uns nur etwas anderes gewünscht."
"Und was?" Es war die offene Neugier eines Kindes, das sich nicht noch einmal übergeben wollte, weil es von heute auf morgen die geliebte Pizza nicht mehr vertrug. Das war keine schöne Zeit gewesen, als das passierte. Die Doktorin konnte doch nicht wollen, dass es ihr wieder schlecht ging. Aber dort zumindest hatte sie gestrahlt und sich gefreut und gesagt, dass das tolle Ergebnisse seien. Zoe hatte nicht verstanden, warum sie toll waren, wenn es ihr ganz übel schlecht war, aber sie hatte sich gefreut. Sie wollte dem Doktor immer eine Freude machen, aber sich übergeben wollte sie sich dafür nicht noch einmal.
"Du weißt doch, dass Vampire ganz schnell laufen können. Wir haben gehofft, dass Du das jetzt auch kannst. Oder vielleicht irgendetwas anderes." Sie wirkte genervt, dem Kind überhaupt etwas zu erklären, riss sich aber zusammen, den Schein zu wahren.
"Oh ... ach so ...", Zoe schien enttäuscht. Schneller laufen zu können wäre klasse gewesen. Dann hätte sie mit den anderen Kindern eine Wette gemacht, wenn sie alle auf dem Laufband rennen mussten und sie hätte gewonnen.
"Na macht nichts. Die nächsten Tests machen wir nächste Woche. Ich hoffe, Du freust Dich?" -
"Na klar, außer ich muss wieder eine Spritze kriegen, die mag ich nicht." Der Mann lachte leise auf, dann war er auf einmal hinter ihr und lehnte in der Tür. Zoe schüttelte kurz den Kopf, weil sie verwirrt war, aber sie war nicht erschrocken. Sie hatte seine Laufbahn mit ihrem Blick verfolgt, auch wenn es fast zu schnell war.
Sie hatte ihn sehen können, aber ihr Kopf hatte sich nicht schnell genug mit ihm drehen können.
"So schnell?", fragte sie schlicht, und wieder wechselten die Erwachsenen einen Blick, die Ärztin schien aufgeregt.
"Hast Du denn sehen können, wie er dahin läuft?" -
"Natürlich, Du nicht?" Zoe runzelte die kleine Stirn und verstand nicht, warum man sie so etwas fragte. Natürlich hatte sie ihn dahin laufen sehen, wie sollte er denn sonst dahin kommen?
"Wunderbar, Zoe, wunderbar ..." Das Mädchen sah die Ärztin irritiert an. Sie konnte sich nicht erklären, was jetzt passiert war, dass sie doch noch erfreut war. Sie hatte doch einfach nur den Mann laufen sehen.
Eine Erklärung sollte das Kind allerdings nicht bekommen. Es würde eine Nascherei bekommen, wie sie sie immer bekam, seit sie keine Pizza mehr vertrug. Zucker war sehr wichtig, sonst verlor sie schnell Kraft. Das hatte sie gelernt. Zucker und auch viel Gemüse und Obst. Sie trauerte aber immer noch um die Pizza, sie hatte so gut nach Knoblauch geschmeckt - jetzt konnte sie nicht einmal mehr den Geruch ertragen.
"Gut, Zoe, lass uns jetzt allein, wir müssen noch ein paar Sachen besprechen. Melde Dich bei Tobias, er wird noch ein paar Tests mit Dir durchführen, dann wissen wir mehr." Zoe nickte und ging an dem schwarzen Mann vorbei hinaus. Nach jedem Versuch mussten weitere Tests durchgeführt werden, sobald Zoe bei der Ärztin war und die sich gefreut hatte. Tobias musste kontrollieren, ob alles mit ihr in Ordnung war, damit sie wieder zu den anderen Kindern gehen konnte, um zu spielen.
Als das Kind die Tür hinter sich verschlossen hatte stand die Ärztin mit vielsagendem, grinsenden Blick auf drehte sich dem schwarzgekleideten Mann zu.
"Hab' ich es Dir nicht gesagt? Es sind nicht nur die Kleinigkeiten, die funktionieren. Ein Vampir funktioniert anders, aber nicht so anders, wie der Mensch. Ich brauche noch eine weitere Versuchsreihe. Ein paar neue Kinder für eine weitere Gruppe." - Er lachte heiser und ging wieder von der Tür in den Raum hinein.
"Gibt es noch weitere Ergebnisse?" -
"Oh ja, sehr wohl ...", sie schien sehr überzeugt von dem, was sie erfahren hatte.
"Wir haben die Kinder in Religionsgruppen eingeteilt, wie Du weißt. Zoe wächst ohne Glauben auf, wie alle Kinder in ihrer Gruppe. Sie zeigt keinerlei Irritation und auch die anderen Menschkinder zeigen überhaupt keine Reaktionen auf Symbolik und dergleichen." -
"Und wo versteckst Du die tollen Ergebnisse?", er klang ernüchternd enttäuscht.
"Aber hallo ... weißt Du, was das bedeutet?" -
"Mach es nicht so spannend." -
"Ist ja okay. Ich brauche noch ein bisschen Zeit, aber es kristallisiert sich heraus, dass die Vampirkinder unterschiedlich reagieren, im Gegensatz zu den menschlichen." -
"Wie meinst Du das?"
"Ganz einfach. Wenn ein Vampirkind der ungläubigen Gruppe auf Religionssymboliken trifft, reagiert es automatisch irritiert. Es kann seine Fähigkeiten kaum mehr einsetzen, manche haben geschrieen. Sie hatten aber keine Schmerzen, sondern einfach nur Angst. Vor allem dann, wenn sie jemandem gegenüber standen, der sehr stark an seine Symbolik glaubt." -
"Interessant." -
"Es kommt noch besser," versprach sie,
"die Vampirkinder, die mit Glauben aufwachsen, spüren zwar starke Irritationen gegenüber Glaubenssymbolen anderer Religionen, aber gegen ihre eigenen nur wenige. Sie können ihre Fähigkeiten sehr gut einsetzen, nicht immer, nicht komplett, aber gut. Zumindest eine gewisse Zeit lang." Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er schien nicht gänzlich zu begreifen, was sie ihm sagen wollte.
"Verstehst Du nicht? Das ganze ist reine Psychologie ... Die Psyche eines Vampirs scheint mit solchen Glaubensfrage gänzlich anders zu funktionieren, als bei einem Menschen, das ist das eine. Das andere aber ist, dass ein Vampir sich nicht mehr irritieren lässt, je mehr Bezug er zu einem Glauben findet. Es ist reine Kopfsache, er kann lernen, es zu unterdrücken. Wir müssen nur herausfinden, wie. Vielleicht helfen Medikamente, vielleicht reicht Hypnose, keine Ahnung, aber es ist ein wirklicher Fortschritt und ganz sicher ist, dass es nur daran liegen kann, dass irgendein Hirnzentrum anders funktioniert als beim Menschen."
Es war etwas komplex, aber er glaubte, zu verstehen, was sie meinte. Für ihn war es zwar nicht komplett nur "Psychologie", wenn sie von Medikamenten sprach, und von unterschiedlichen Gehirnen, aber wenn sie dachte, dass das so war, würde das stimmen. Sie war die Ärztin, er hatte keine Ahnung von Medizin. Einige Monate später überwies er der Forschung weitere Gelder, damit sie die Forschungen fortsetzen konnten.
.oO°*°Oo.
"Das können Sie nicht machen, sie ist doch erst 15 Jahre alt ... das können Sie einfach nicht machen ...", Tobias' Stimme war aufgeregt, aufgebracht und vollkommen entrüstet.
"Seit wann fragen wir Sie, was gemacht wird?", die Ärztin ignorierte ihn mit ihrem Blick und las in der Akte in ihrer Hand.
"Der Kodex verbietet es!", versuchte er es auf diese Art und wusste, dass er auf taube Ohren stieß.
"Der Kodex ist mir reichlich egal, seit wann arbeiten wir mit dem Kodex, Tobias, haben Sie den Verstand verloren? Was ist denn los mit Ihnen? Kann es denn sein," jetzt blickte sie ihn mit prüfenden Blick an,
"dass wir uns auch um Sie kümmern müssen?"
Das war eine Drohung, es klang vielleicht für einen Außenstehenden nicht so, aber es war eine Drohung und er wäre nicht der erste, um den sich gekümmert worden wäre. Tobias schluckte schwer und starrte sie an. Angst war in seinen Blick geschlichen.
"Natürlich nicht, verzeihen Sie. Aber ich bitte Sie, warten Sie noch ein paar Jahre, vielleicht zwei, oder auch drei Jahre. Sie wäre dann ausgewachsen, die Ergebnisse wären viel eindeutiger", er wusste, dass er jetzt aufpassen musste, was er sagte. Sie fixierte ihn noch immer.
"Mir liegt etwas an diesen Forschungen, ich möchte, dass sie gelingen und weiteren Erfolg versprechen, ich möchte nicht, dass es in die Hose geht, nur weil wir alle schneller zu irgendwelchen Ergebnissen kommen. Diese Sache ist zu wichtig", es gab eine Zeit, in der er das so gesehen hatte ... eine lange Zeit, aber in diesem Moment wusste er, dass er nicht mehr so dachte. Er wusste, dass er log.
Eine angespannte Stille legte sich zwischen sie, dann klappte sie die Akte zu und reichte sie ihm mit einer scharfen Handbewegung.
"Wahrscheinlich haben Sie recht." Sie glaubte ihm und er atmete innerlich aus.
"Wir werden die Blutstaufe mit ihrem 18. Lebensjahr machen. Ich hoffe für Sie, dass Sie uns nicht abhanden kommen, Tobias." -
"Natürlich nicht, mein Herzblut hängt in diesen Forschungen!" Zumindest wirkte er ehrlich entrüstet, denn sie nickte. Er fühlte sich allerdings sehr klein in diesem Moment und war froh, dass sie endlich ging.
Nun hatte er drei Jahre ... drei Jahre, um dieses Mädchen und vielleicht ein paar andere Kinder hier zu befreien. Wie er das anstellen wollte, wusste er noch nicht. Jedoch musste er bei den Kindern beginnen, zumindest bei Zoe, denn bei ihr waren die Ergebnisse der Forschungen so fortschrittlich, dass sie die einzige war, die für diese Blutstaufe in Frage kam. Er musste sie dazu bringen, dass sie verstand, dass es nicht richtig war, was hier ablief. Er musste sie dazu erziehen, dass sie sich eigene Gedanken über gut und richtig machte. Sie war ein kluges Mädchen, aber wer keine Unterschiede kannte, wer nicht wusste, dass es neben dem Leben im Labor noch ein ganz anderes gab, der konnte auch nicht verstehen, was er verpasste.
***
Monate vor Zoes 18. Geburtstag, der ohnehin nicht gefeiert wurde, hatte Tobias eine andere Versuchsperson so weit, dass eher diese genommen wurde, um die Blutstaufe zu vollziehen und zu sehen, was nach all den Experimenten nun passierte. Tobias kam nie über das Schuldgefühl hinweg, als der junge Mann, den er anstelle Zoes in sein Schicksal brachte, mit nur 17 Jahren starb. Alle hatten ihn Elmar genannt. Für die Akte war er lediglich BZ-1-E03. Es sollte vorerst keine weitere Blutstaufe versucht werden. Diese Akte konnte geschlossen werden.
Eigenständiges Denken im Alltag
Zoe konnte nicht verstehen, warum Elmer auf einmal nicht mehr da war. Mit dem Tod war sie nie konfrontiert worden. Es gab niemanden, der hier starb. Es hatte nie einen Grund gegeben, über dieses Thema zu sprechen, geschweige denn zu erzählen, dass es den Tod überhaupt gab. Alle Versuchspersonen wurden dahingehend erzogen, dass sie keine Angst vor Schmerzen und keine Angst vor irgendwas hatten. Sie waren Marionetten in einer Scheinwelt ohne Sonnenschein, ohne Pflanzen, ohne eigenes Denken. Sie taten, wie ihnen geheißen, weil sie es nie anders gelernt hatten.
Doch jetzt begann Zoe langsam nachzudenken. Sie hatte sich vor Jahren gefragt, woher die Früchte kamen, die sie zum Nachtisch bekam. Natürlich wurden diese irgendwie hergestellt, damit hatte sie sich zufrieden gegeben, ohne einmal gefragt zu haben, ob sie bei solch einer Herstellung einmal dabei sein konnte. Tobias war zu einem Freund geworden. Freunde hatte sie hier einige, aber keiner von ihnen konnte so gute Geschichten erzählen, wie Tobias es tat.
In der Pubertät war Zoe ein Mädchen, das nicht recht wusste, wohin es gehörte und wie es sich verhalten sollte. Sie verliebte sich in einen Jungen aus ihrer Gruppe, es war ein ganz normales Leben, das sie im Laboratorium führten. Sie hatten feste Essenszeiten, konnten mit verschiedenen Dingen spielen, zeichnen und malen, hatten sogar einen Computer, auf dem Konzentrationsspielchen installiert waren. Man musste nur klicken, die ganzen Zeichen auf der Tastatur musste man nicht verstehen. Alles, was die Versuchskinder und nun -jugendlichen taten, wurde mit Kameras aufgenommen. Als man merkte, dass einige Mädchen, wie auch Zoe, auf ganz natürliche Weise sexuell aktiv wurden, trennte man die Jugendlichen nach Geschlecht.
Es dauerte etwas, bis das passierte. Ein Mädchen wurde schwanger, trotz dass es die Pille verschrieben bekommen hatte. Es klang wie eine Folgemaßnahme darauf, doch es war schlichtweg ein neuer Versuch, um Medikamente auszutesten. Zoe selbst war schon lange nicht mehr krank geworden. Sie hatte als Kleinkind einmal eine Grippe. Daraufhin wurden neue Versuche gemacht, ihr wurden verschiedene Dinge gespritzt, von denen sie nicht wusste, was es war, aber auch nie nachgefragt hatte. Es war nun einmal so. Seither war sie nie wieder krank gewesen und die Ärztin hatte sich über die Testwerte gefreut.
Nach und nach aber fragte Zoe sich doch nach dem ein oder anderen Hintergrund. Sie merkte gar nicht, dass Tobias es war, der ihr Fragen stellte, auf die sie keine Antwort wusste, weil sie nie darüber nachgedacht hatte. Es war ein Spiel geworden zwischen ihnen, sie hatte ein Geheimnis. Das erste Geheimnis ihres Lebens, sie wusste nicht einmal wie lebensnotwendig und existenziell wichtig es für sie war oder gar: noch werden würde.
Lesen und schreiben lehrte er ihr nicht, aber er lehrte ihr, ihren Kopf zu verwenden, zu erkennen, dass es Schlechtes und Gutes gab, auch wenn das Schlechte sich manchmal als Gutes ausgab. Er erzählte kleine Geschichten und Gleichnisse, damit sie besser verstand, was er meinte. Sie bezog das alles allerdings nicht auf ihre Umgebung. Zumindest vorerst nicht. Erst jetzt, da Elmer und die anderen Jungs von ihnen abgeschottet wurden, war sie ärgerlich und sogar einmal wirklich bockig.
Dann war Elmer auch nicht mehr im Essenssaal zu sehen, nicht nur, dass sie nicht mit ihm hatte reden dürfen, er war auch einfach nicht mehr da, sodass sie ihn auch nicht mehr sehen durfte. Es war auch das erste Mal, dass sie sich über eine wirkliche Regel hinwegsetzte und einen der Jungen fragte, wo er denn sei. Verunsichert hatte er sich umgesehen und dann mit den Schultern gezuckt. Er wusste es nicht, und er wollte nicht mit ihr reden, weil er nicht mit ihr sprechen durfte. Tobias hatte Zoe schon so weit gebracht, dass sie selbst Entscheidungen traf, dass sie erkannte, wenn etwas nicht stimmte, dass sie sich gegen Regeln wand, wenn sie sie für unsinnig hielt.
Doch sie war noch nicht so weit, dass sie sich wirklich auflehnen würde. Für sie war das alles normal und das Verhalten, welches sie etwas bockig werden ließ, stempelte die Ärztin als pubertäres Verhalten ab. Zoe war nicht die einzige, die in diesem Alter etwas zickig geworden war. Das alles sprach allerdings auch dafür, dass die Ärztin Zoe nicht kannte. Zoe war von Gemüt auf kein bockiger Mensch. Tobias aber atmete auf, dass es der Doktorin nicht auffiel - zumindest nicht mehr oder weniger, als bei anderen auch.
Vertrauen und Geheimnisse
Als Zoe 18 Jahre alt wurde, erzählte er ihr von Geburtstagen. Er hatte ihr eine kleine Torte gebacken, heimlich, da er auch für die Küche zuständig war, nicht nur für Tests am Laufband oder die regelmäßige Blutuntersuchung. Es gab Geburtstage und Tobias war in der Stellung ihr zu erklären, wo Kinder eigentlich herkamen. Das schwangere Mädchen war sehr schnell von der Gruppe isoliert worden, sodass niemand mitbekommen hatte, was mit ihm war. Tobias erzählte ihr, was ihm möglich war. In der Küche gab es keine Abhörgeräte und keine Videokameras, er konnte hier agieren, wie es ihm beliebte.
Mit der Frage nach den Kindern und einem Geburtstag, kam aber auch die Frage nach Zoes Eltern. Tobias schluckte. Zoe begann sich zu fragen, woher sie kam und zu wem sie gehörte. Ob der Doktor ihre Mutter sei und hoffentlich der schwarzgekleidete Mann nicht ihr Vater ... Tobias verneinte. Er wusste nur aus den Akten, wie Zoes Eltern hießen, er wusste nur, dass es noch einen Zwilling gegeben hatte, einen Jungen, der bei den Eltern lebte, die glaubten, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben sei. Es war an der Zeit, Zoe langsam darauf vorzubereiten. Er hatte einen Plan, er wollte das Mädchen rausholen, sie war ihm ans Herz gewachsen mit ihrem fröhlichen, offenen Gemüt. Mit ihrer Wissbegier und der Freude daran, Neues zu lernen und zu erfahren. Und auch, um etwas gut zu machen ... wieder dachte er an ihre Eltern.
"Dann muss ich fragen, wer meine Eltern sind und ob sie mich nicht einmal besuchen können. Sie sind doch sicherlich auch hier, oder? Müssen sie ja, wo sollten sie sonst sein. Oder bist Du mein Vater?" Tobias wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Er musste sie aufklären, auch wenn er nicht sicher war, ob sie schon soweit war.
"Zoe, hör zu. Wir müssen mal sehr ausführlich und ehrlich miteinander sprechen." -
"Sind wir das nicht immer? Ehrlich?", Zoe schob sich auf die Edelstahlarbeitsfläche der Küche und naschte an ihrer Torte.
"Doch schon, aber bisher habe ich Dir nicht alles erzählt." Sie runzelte die Stirn. Er atmete tief durch.
"Was ich Dir jetzt erzähle, es muss unter uns bleiben. Es ist mehr als wichtig, dass es unter uns bleibt." -
"Warum?" Tobias lächelte. Er hatte sie wirklich dazu bringen können, die Dinge zu hinterfragen. Aber mehr und mehr konnte genau das ein Problem werden. Sie wurde auffällig, weil sie erst verstehen wollte, für was etwas gut war, bevor sie etwas tat. Ein weiterer Grund, dass er endlich Klartext mit der jungen Frau sprechen musste, die im Prinzip weder äußerlich noch innerlich 18 Jahre alt war. Sie wusste so vieles noch nicht, hatte nicht mal einen Baum gesehen ...
"Vertraust Du mir?" -
"Natürlich", sie brauchte noch nicht einmal darüber nachdenken. Die letzten Monate hatte sie angefangen, Dinge zu hinterfragen, aber sie war immer klug genug gewesen, erst zu Tobias zu gehen, anstatt die Doktorin anzusprechen. Tobias erkannte, wie gefährlich er all das aufgezogen hatte, wie schnell das hätte nach hinten losgehen können. Ein Kind konnte man mit Geheimnissen locken, aber irgendwann waren Geheimnisse nicht mehr mysteriös, wenn man nicht verstand, warum man sie hatte.
"Gibt es jemanden, dem Du nicht vertraust?", fragte er daraufhin und sie dachte nach.
"Ich glaube nicht. Ich glaube, ... ich glaube, ich weiß gar nicht, was Vertrauen ist." Diese Erkenntnis kam schnell. Ein Beweis für Tobias dafür, dass sie intelligent war. Aber wie konnte man Vertrauen denn erklären? Wie sollte man jemandem erklären, was Vertrauen war, wenn derjenige Misstrauen nicht kannte?
Tobias wurde von Minute zu Minute deutlich klarer, was er hier getan hatte, wie viel Wissen dem Mädchen fehlte und was es eigentlich noch alles an Wissen brauchte, bevor er sie hier rausholen durfte. Aber er wusste gleichwohl, dass sie in keinem Fall länger hier bleiben konnte. Nicht, wenn sie langsam dazu kam, die Leute offen auf ihre Fragen anzusprechen, wie sie es von ihm gelernt hatte. Es war der natürliche Lauf. Früher oder später musste es schief gehen, das wusste er. Er hatte sich etwas vorgemacht, hatte die Gefahr gekannt, aber er hatte sie unterschätzt. Weit unterschätzt. Und damit hatte er nicht nur sich, sondern vor allem auch Zoe in Lebensgefahr gebracht.
"Jetzt erklär' es mir doch", bat sie ungeduldig und sah ihn mit ihren großen neugierig blauen Augen an, als er aus seinen Gedanken aufgeschreckt zu ihr sah. Er war alt geworden. Der Vampir war alt geworden, auch wenn er nicht danach aussah. Er fühlte sich uralt. Doch er wusste, er musste jetzt zuende bringen, was er begonnen hatte.
"Ich möchte, dass Du niemandem von unseren Gesprächen erzählst. Wenn Du mir vertraust, dann machst Du das, ohne dass Du hinterfragst, warum." -
"Du hast mir beigebracht, dass ich hinterfragen soll", ihre Antwort war wie aus der Pistole geschossen und sie hatte Recht.
"Ja, das habe ich. Und das soll auch so sein. Aber ... das, was ich Dir alles erklären muss und auch möchte, ist so viel, dass ich Dir das nicht an einem Nachmittag erklären kann. Verstehst Du?" Sie verstand, aber sie verstand auch nicht.
"Ich möchte Dir erklären, warum Du niemandem davon erzählen kannst, aber das kann ich nicht an einem Nachmittag. Und solange Du nicht alles weißt, musst Du mir einfach vertrauen, dass es einen wichtigen Grund gibt, warum das so ist. Ich werde Dir diesen Grund nennen, aber ich kann es nicht einfach so, es ist zu kompliziert. Und so lange bitte ich Dich inständig, unsere Gespräche für Dich zu behalten und auch, nichts zu hinterfragen, was andere zu Dir sagen. Es ist schwer, das weiß ich ...," er musste einlenken, weil sie widersprechen wollte,
"... es ist vor allem schwer, weil Du gelernt hast, dass es wichtig ist, die Dinge zu verstehen, die mit Dir passieren oder um Dich herum. Aber auch hier musst Du mir vertrauen. Ich verspreche Dir, Dir alles zu sagen, wenn Du mir versprichst, dass Du solange, bis Du alles weißt, niemanden hinterfragst und auch niemandem davon erzählst." Zoe bekam eine Ahnung davon, was es bedeutete, jemandem zu vertrauen. Es war diese eine Sekunde Gewissheit, die man hatte, doch noch bevor sie sie greifen konnte, war sie wieder vorbeigezogen. Doch sie wusste, wie es sich in dieser Sekunde angefühlt hatte und daran hielt sie fest. Und nickte.
Die erste Hürde schien geschafft, doch das weiteste Stück bis zum Gipfel des Berges lag noch vor ihm. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass er für all seine Erklärungen mehr als 2 Jahre brauchte. Doch Zoe verstand mit jeder Stunde, in der sie sich mit ihm unterhielt, mehr, warum sie niemandem etwas sagen konnte. Doch es war nicht einfach - und es sollte noch schwerer werden, als Tobias merkte, dass Zoe so aufgewühlt war von all den neuen Erkenntnissen, dass Zoe ihre Gedanken nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er musste ihr lernen, wie sie ihre Gedanken kontrollieren konnte und es bedurfte einige Zeit, bis es wirklich funktionierte. Er hatte versucht, es mit "Vergessen" hinzubekommen, aber war kläglich gescheitert. Die Versuche, die die junge Frau Zeit ihres Lebens durchlebt hatte, hatten sie immun gegen diese Fähigkeit gemacht.
Tobias hatte die Frage mit ihren Eltern, ihrer Familie weit hinten an geschoben und sie immer wieder vertröstet. Es war nicht ganz so schwer, wie er geglaubt hatte, denn das Mädchen wusste nichts von Eltern- und Kindliebe, hatte diese nie wirklich erfahren. Sie kannte das Gefühl von Gemeinschaft, aber nicht in der "freien" Form, wie es "draußen" in der Welt war. Doch nach und nach kam der Wunsch zurück, zu wissen, woher sie eigentlich kam. Doch primärer war, dass sie begriff, dass die Angestellten nicht ihre Freunde waren. Die Hebamme, die sie aufzogen hatte, war keine Freundin, ebenso wenig wie die Ärztin. Langsam begann Zoe für sich selbst, ein falsches von einem echten Lächeln zu unterscheiden, und als die Auren-Versuche abgeschlossen waren, spürte sie auch die Schwingungen deutlicher, die Tobias ihr zu erkennen lehrte.
Zoe brauchte allerdings wirklich lange, bis sie selbst begriff, dass ihr Leben hier im Labor, nicht das Leben war, was überall herrschte. Tobias beging den Fehler und erzählte ihr von der Natur, brachte Bilder in seiner Hosentasche mit und zeigte ihr, wie es draußen aussah. Ein Draußen, von dem Zoe nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Es war kaum mehr möglich, sie jetzt noch aufzuhalten. Nur unter wirklich vielen Erklärungen und Beschwichtigungen konnte er sie davon abhalten, die Ärztin aufzusuchen und zu sagen, dass sie gerne einmal "nach draußen" gehen wollte. Sie konnte sich, trotz, dass sie merkte, dass die Ärztin kein Freund war, nicht vorstellen, dass diese ihr diesen Wunsch verwehrte. Warum sollte sie?
Sie verstand das große Ganze nicht und daher war Tobias' nächste Aufgabe "schlicht", ihr zu erklären, weswegen sie hier war. Er wusste aber auch gleichzeitig, dass, sobald Zoe begriff, was hier passierte, - wirklich begriff -, sie nicht mehr hier bleiben wollte. Und er konnte es verstehen. Vielleicht wurde sie auch sauer auf ihn, denn er war nicht unschuldig an der ganzen Situation, auch er machte Versuche mit ihr, auch er erledigte hier seinen Job, vor 15 Jahren noch, war er überzeugt von diesem Job und den Experimenten gewesen.
Die Ereignisse überschlugen sich, als abermals Tests mit der Blutstaufe anstanden. Zoe war nun die erste auf der Liste. Sie war weiterhin diejenige mit den besten Ergebnissen, aber nicht zuletzt deswegen, weil Tobias sie in dem schulte, was durch die Experimente hervorgerufen wurde. Doch er schulte sie nicht für diesen großen "letzten" Test, er schulte sie für ihr Überleben, sobald er sie hier rausgeholt hatte. Zoe wusste noch überhaupt nichts davon, dass das sein primäres Ziel war. Er versuchte alle Hebel in Bewegung zu setzen, dass Zoe nicht das Versuchskaninchen für diesen Test wurde. Er musste gleichwohl aber auch vorsichtig sein. Schon damals hatte er versucht, sie davor zu bewahren, dieses Mal würde die Ärztin die Lunte riechen. Warum gerade Zoe? Er hatte auch kein Argument mehr bezüglich ihres Alters. Sie war vor einigen Monaten 21 Jahre alt geworden.
Er griff den letzten Strohhalm und bereitete eine Sitzung vor, zu der er das Team einlud. Er musste fachmännisch überzeugen und so stand er voller Zweifel und Angst, verdeckt unter der perfekten Beherrschung seiner Aura, vor einem 12-köpfigen Ärzteteam, um ihnen anhand von Zahlen und Fakten zu erläutern, wie nun weiter vorgegangen werden sollte.
"Es ist wirklich an der Zeit, dass wir diesen Test noch einmal machen", bekräftigte er erst einmal das Experiment "Blutstaufe". Er musste Vertrauen auslösen. Die Fäuste klopften auf den großen, ovalen Eicheholztisch des Konferenzsaals. Tobias schaltete den Beamer ein und belegte seine Aussage mit den Fakten der letzten Jahre, Ergebnissen aus Untersuchungen - von Zoe - aber auch von einer weiteren Person in ihrer Gruppe. Er würde schon wieder einen Menschen auf dem Gewissen haben, dachte er bei sich und schluckte.
"Diese Zahlen belegen, dass es an der Zeit ist. Wir können nicht noch mehr testen. Es gibt nichts mehr zu testen bei diesen beiden. Wenn es jetzt nicht funktioniert, wann dann?" Wieder erntete er anerkennendes Klopfen.
"Was aber, wenn es dennoch nicht hinhaut? Was dann?", fragte er die Gruppe und nahm ihnen die Antwort vornweg:
"Wir würden unser bestes Pferd im Stall verlieren, ohne herausfinden zu können, warum es nicht funktioniert." Gemurmel im Raum, teilweise nickende Köpfe, die sich zueinander gedreht hatten. Die Oberärztin saß am Kopf des Tisches und fixierte ihn schon wieder. Ahnte sie etwas?
"Ich schlage daher vor, unser zweitbestes Pferd zu nehmen, um die Gefahren abzuschätzen und zu sehen, wenn es nicht klappt, woran es liegt, damit wir unser bestes Pferd nicht verlieren." Abermaliges Gemurmel. Die Oberärztin verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen aufeinander.
"AJM-2-Z03, meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ist mittlerweile 21 Jahre alt. 21 Jahre Forschung, die wir in den Sand setzen würden, würden wir sie blindlings opfern." Wieder nickenden Zustimmung. Alle dachten ans Geld und an die Zeit, die investiert worden war. Die Oberärztin blickte ihn scharf an. Sie versuchte seine Hintergründe zu durchleuchten.
"Wir sollten also das Experiment mit CN-2-Z02 durchführen, um AJM-2-Z03 nicht zu schnell zu verlieren. Wer dafür ist, hebt die Hand", bis auf eine gingen alle Hände nach oben. Die Oberärztin rührte sich nicht, doch ihr Blick zeugte von einem großen Potential töten zu können. Es war ihre Idee gewesen, abermals auf Zoe zurückzugreifen und jetzt schien sie den Braten gerochen zu haben. Sie wusste aber auch, dass sie gegen die Mehrheit - vor allem ohne Beweise - nicht ankommen würde.
Und Tobias wusste, dass das ein Nachspiel haben würde. Zwei Wochen später wurde er auf eine andere Etage zu einer neuen Versuchsgruppe versetzt. Der Deckmantel war eine Beförderung seines Wissens und seiner Erfahrung wegen. Auch hier waren alle Hände nach oben gegangen. Die Ärztin hatte gewonnen. Vorerst. Dennoch wurde Zoe damit verschont, ebenso: vorerst. Sie konnte sich nicht erklären, wo Tobias nun war, er hatte sie darauf vorbereitet und auch, dass sie keine Fragen dazu stellen sollte. Sie musste ihm
vertrauen, und das tat sie mittlerweile bedingungslos.
Zoe wurde ins Verhör genommen. Aus der sonst so freundlich tuenden Ärztin, war eine Frau geworden, die ihr wahres Gesicht zeigte. Sie versuchte mit allen Mitteln mehr zu erfahren und Zoe versuchte mit allen Mitteln ihr Geheimnis für sich zu behalten und es gelang. Bis auf einen Abend, es war ein gutes halbes Jahr später, als der Mann im schwarzen Mantel wieder einmal da war. Er war die letzten Jahre nicht sehr oft da gewesen.
"AJM-2-Z03 bitte in Laboratorium Nummer Eins." Zoe atmete durch. In den letzten Wochen hatte sie nichts anderes getan, als sich darüber Gedanken gemacht, wann Tobias endlich wieder da war. Sie hielt die Fragen, hielt die Tests, die sie mit ihr machten, nicht mehr aus, aber konnte sich auch nicht wehren. Es waren keine Versuchstests, es waren allerhand Möglichkeiten, sie dazu zu bewegen, etwas zu erzählen. Zoe hatte nicht gelernt zu lügen, sie konnte nicht verheimlichen, dass es etwas gab, aber sie schwieg, sie schwieg, weil Tobias sie darum gebeten hatte, weil sie ihm vertraute - und er ihr. Nach und nach übertrug sie all das Wissen über Vertrauen und Misstrauen, über gut und schlecht endlich auch auf ihre Umgebung und sie begriff, was Tobias all die Jahre gemeint hatte, in dem er versuchte, ihr all das zu vermitteln.
Sie würde durchhalten, bestimmt würde sie das. Sie hatte versucht, vorsichtig bei den anderen nachzufragen, wie es ihnen ging, wie sie das alles hier sahen. Aber sie erkannte schnell, dass sie auf taube, verständnislose Ohren stieß, in dem sie hinterfragte. Sie begriff, wie wertvoll ihre eigene Meinung war, und sie sonderte sich leicht ab. Immer noch machte sie Späße, es lag in ihrem Naturell, dafür mochten sie die anderen, aber sie ging auf keine näheren Beziehungen mehr ein, schloss keine Freundschaften, die ihr eh nichts hatten geben können. Sie begriff, dass ihr einzig wahrer Freund Tobias war, und er war weg. Wohin, das wusste sie nicht, aber er hatte versprochen, dass er zurückkam und er hatte gesagt, dass er sie dann mitnahm. Dahin mitnahm, wo draußen war. Und sie glaubte ihm.
Als Zoe nun die Türe zum Labor Nummer Eins öffnete, erstarrte sie beim Anblick des Mannes, den sie schon als Kind intuitiv nicht hatte leiden können. Jetzt als Erwachsene spürte sie allerdings auch eine riesige Anziehungskraft, die sie nicht beschreiben konnte. Er sah noch immer aus, wie früher. Er war ein Vampir, das wusste sie aber schon lange. Es gab Menschen und Vampire und es war nie anders gewesen. Hier hatte sich niemand die Frage gestellt, warum das so war. Es gab sie eben, wie es für die Menschen nur die Menschen gab. Sie wusste nicht, dass es Personen gab, die von Vampiren nichts wussten.
"Komm rein, Zoe", sagte die Ärztin und Zoe schloss die Tür hinter sich und trat in den Raum.
"Hallo, Zoe", sagte nun auch der Vampir mit seiner tiefen Stimme und ungekannt freundlich. Zoe runzelte die Stirn, sie blieb skeptisch. Sie traute ihm einfach nicht.
"Hallo", war alles, was sie sagte. Hier stimmte etwas nicht. Der Vampir entledigte sich seines Mantels und warf diesen auf die weiße Behandlungsliege im Raum. Er hob den Hut, und zum ersten Mal sah Zoe sein ebenmäßig schönes Gesicht. Sie spürte sein Alter, sie spürte, dass er mächtig war und trat einen Schritt zurück. Die Anziehung aber war stärker. Er war so schön, er strahlte so viel Kraft aus, so viel Sicherheit.
Mit jedem Schritt, den er näher trat, verschwanden mehr und mehr die Zweifel an seiner Person. Ihre Wangen glühten, als seine kalte Hand ihre linke berührte und sie sah beschämt weg. Das Mädchen spürte, nein, sie wusste, dass etwas mit ihr passierte, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, sie konnte nichts dagegen tun und das Gefühl wurde schwächer und schwächer, aller Widerstand löste sich auf.
"Schließ die Augen ...", mit einem Mal war diese Stimme das Reinste, das Zoe je vernommen hatte und sie tat, wie ihr geheißen.
In ihrem Kopf summte es, es hörte sich an, wie eine kaputte Leuchtstoffröhre, kurz vor ihrem Ableben. Dann kamen Bilder in ihren Kopf, die nicht von ihr stammten, Bilder, die ihr ein wohliges Gefühl vermittelten und Zoe ließ sich in diese fallen, ließ es zu und fiel weich. Alles drehte sich, als die Stimme - nun viel weiter weg - sagte, sie solle die Augen wieder öffnen. Ruckartig kam sie zurück, aber sie nahm nichts mehr um sich herum wahr. Sie sah nicht, dass sie in Labor Nummer Eins stand, sie dachte nicht mehr daran, dass auch die Ärztin in diesem Raum wahr. Und vor ihr stand nicht der Mann in Schwarz, vor ihr stand Tobias. Sie fiel ihm um den Hals. Tobias, den sie so schmerzlich vermisst hatte, endlich war er wieder da, endlich holte er sie hier raus.
"Wo warst Du so lange, ich ... ich hab so lange gewartet, ich ...", Tränen standen der jungen Frau in den Augen, als sie ihren so guten, einzigen Freund wieder ansah und lächelte.
"Jetzt bin ich ja wieder da ...", sagte Tobias und Zoe lächelte noch erleichterter.
"Weißt Du noch, worüber wir das letzte Mal gesprochen haben?", fragte er nun und lächelte auch selbst.
"Natürlich ... das Vertrauen, das Vertrauen, das man haben soll ...", sagte sie sofort.
"Ja, richtig, das Vertrauen. Vertraust Du mir, Zoe?" -
"Natürlich, das weißt Du doch ...", sagte sie sogleich, es war fast, als säße sie wieder in der Küche, als er ihr an ihrem 18. Geburtstag erzählte, was ein Geburtstag war.
"Was habe ich Dir noch erzählt? Kannst Du Dich erinnern?" Zoe runzelte die Stirn, was sollten diese Fragen? Natürlich konnte sie sich erinnern, aber erinnerte er sich nicht mehr?
"Natürlich ...", sie wurde unsicher und ihr Gegenüber spürte es.
"Warum fragst Du?" -
"Weil ich mich nicht mehr erinnern kann ...", kam prompt zur Antwort.
"Kannst Du es mir erzählen?" Zoe spürte Widerstand in sich drin, spürte, dass etwas nicht stimmte, spürte, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Dieser Mann sah aus wie Tobias, aber er war nicht wie Tobias. Tobias hatte niemals derartige Fragen gestellt, um etwas zu erfahren ... vielleicht aber war es auch ihr Gefühl, das Gefühl der Aura, die sie nicht kannte, die ihr bekannt fremd war. Außerdem hatte Tobias noch nie etwas vergessen, was sie besprochen hatten. Dass das ausnahmebedingt jetzt sein konnte, kam ihr nicht in den Sinn.
"Du bist nicht Tobias", sagte sie dann und ging einen Schritt zurück.
"Was redest Du denn da, Zoe, natürlich bin ich Tobias. Tobias, den Du schon so lange kennst. Du erkennst mich doch ..." -
"Nein ... ja, nein, aber ... nein, Du ... Du bist nicht Tobias ..." Ihr Kopf begann zu schmerzen und sie taumelte gegen die Tür zurück. Dann wurde es schwarz um sie herum und sie fiel ... fiel in ein Loch ohne Boden, fiel und fiel und fiel und fiel ...
"Aufwachen, AJM-2-Z03." Die Stimme klang mechanisch und Zoe wandte sich unter ihrem Kopfschmerz vom Licht weg, das sie durch die geschlossenen Lider blendete.
"Aufwachen!" Die Stimme war lauter als zuvor, das Pochen in ihren Schläfen stärker. Sie erkannte die Stimme nicht, sie wollte sie auch nicht erkennen. Was war nur passiert? Sie wollte eine Antwort auf diese Frage in ihrem Kopf finden, aber sie konnte nicht denken. Sie wollte nicht denken, es schmerzte viel zu sehr. Sie konnte auch nichts sagen, auch nicht, dass diese Stimme leise sein sollte.
Sie wollte sich nicht bewegen, jede Bewegung brachte ihre Stirn zum Zerbersten, so fühlte es sich an. Sie lag. Sie fühlte dass sie lag, auf etwas hartem, es fühlte sich an wie eine der Liegen.
"AJM-2-Z03 öffne die Augen." -
"Ich kann nicht ... das Licht", ihre Stimme war leise, sie hob ihre Hand an ihre Stirn. Die zwei Schritte, die sich von ihr entfernten, und das Klicken das Lichtschalters hallten in ihrem Kopf nach, doch es wurde besser, als das Licht aus war. Die Schritte kamen zurück. Zoe öffnete die Augen und brauchte einen Moment, um etwas zu erkennen.
"Wer sind Sie?", fragte Zoe das fremde Gesicht und schloss ihre Lider wieder. Sie wusste nicht, ob sie wissen wollte, wer hier war. Nicht in diesem Moment.
"Geben Sie ihr doch ein Schmerzmittel, meine Güte", sagte eine tiefere Stimme, die Stimme des Mannes in Schwarz.
"Sie ist resistent gegen Medikamente, wir können nur warten." Das war die Ärztin, Zoes Herz pochte schneller.
"Gut, dann warten wir. Rufen Sie uns bitte, Schwester Ana, wenn man mit ihr sprechen kann." -
"Natürlich." Es klang abermals mechanisch. Zoe schief ein.
Als die junge Frau abermals aufwachte, konnte sie sich erst nicht orientieren. Sie lag noch immer auf dieser Liege, die Kopfschmerzen waren verschwunden, das Licht gedämmt. Zoe richtete sich auf. Die Schwester saß auf einem Stuhl und schlief. Das Mädchen sah sich um. Sie war in einem Labor, wie sie es ihr Leben lang immer wieder gewesen war, aber sie kannte es nicht. Es war nicht Labor Nummer Eins.
"Wo bin ich?", fragte sie in den Raum hinein und die Schwester schreckte hoch.
"Auf der siebten Etage, in Labor Nummer Drei." Antwortete sie. Sie sprach offensichtlich immer mechanisch, und betätigte in diesem Moment einen Knopf. Die Tür öffnete sich kaum eine Minute später.
"Geht es Dir besser, Zoe?", fragte die Ärztin freundlich, aber Zoe wusste, dass sie nicht freundlich war.
"Mir geht es gut, danke ...", skeptisch blickte sie hinter sie. Der Mann in Schwarz schloss die Tür, nachdem die Schwester den Raum verlassen hatte.
"Warum bin ich nicht auf unserer Etage?", fragte sie unvermittelt und spürte schon wieder diese Anziehungskraft, die von dem Vampir ausging. Auch die Ärztin war eine Vampiress, aber sie war anders. Sie veränderte ihre Aura immer sehr menschlich. Seit einiger Zeit konnte Zoe aber auch das erkennen.
"Weil es neue Versuche für Dich gibt." Es klang sehr nüchtern, wie immer, wenn Zoe eine Frage stellte, und die Ärztin nicht antworten wollte.
"Ich will keine neuen Versuche mehr ...", es polterte einfach aus ihr heraus und wieder wurden Blicke getauscht, wie sooft zuvor schon.
"Da wirst Du nicht Drumherum kommen." Abermals viel zu nüchtern. Sie hatte offensichtlich aufgegeben, zu fragen, was mit Tobias war. Die letzten Wochen war nur das Thema gewesen.
"Du wirst ein Vampir werden", sagte nun der Vampir mit trockener Stimme, die sie aufklären sollte.
Zoe sah ihn prüfend an. Warum sollte sie ein Vampir werden? Wollte sie ein Vampir werden? Es war nicht schlimmes, ein Vampir zu sein, wie sie fand. Sie wusste alles, was sie wissen musste, aber wollte sie das? Eigentlich nicht ... Es war ein Bauchgefühl. Sie wollte kein Vampir sein, sie war als Mensch recht zufrieden.
"Nein", war daher ihre Antwort, ohne, dass sie jemand danach gefragt hätte.
"Du hast keine Wahl", lachte die Oberärztin laut.
"Ich glaube zu wissen, was Tobias bei Dir versucht hat. Es ist unglaublich." Zoe spürte Ärger in sich hochkommen.
"Unglaublich, dass er mir das Denken gelehrt hat? Oder unglaublich, dass er einer von den "Guten" ist?" Als sie es aussprach, wusste sie, dass sie sich verraten hatte. Triumph spiegelte sich in den Augen der Ärztin wider, der Vampir nickte ihr zu und sie gingen ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Zoe verspürte Angst. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie Angst, vor dem, was war. Vor diesen beiden Leuten, die ihr gerade bewiesen hatten, dass sie nicht zu den "Guten" gehörten, auch wenn sie das zuvor schon gewusst hatte.
Die Blutstaufe. Zoe wollte sie nicht. Sie hatte Tobias einmal gefragt, ob es so viel besser war als Vampir, als als Mensch. Er hatte geantwortet, dass alles seine Vor- und Nachteile hatte. Aber dass es wichtig war, dass sie ein Mensch war, wenn sie er sie mit nach draußen nahm. Die junge Frau sollte die Welt in voller Farbenpracht sehen können. Zoe wusste nicht genau, was er damit meinte, aber das Mädchen wusste, dass sie, wenn sie ein Vampir würde, sie diese von ihm so genannte Farbenpracht nicht sehen konnte. Er hatte davon gesprochen, dass Vampire bei Sonnenlicht starben. Sie hatte niemals die Sonne gesehen, außer auf Bildern. Aber sie musste wunderschön sein. Nein, Zoe konnte kein Vampir werden, solange sie all das nicht gesehen hatte. Aber was sollte sie tun?
Zoe stand auf und ging zur Tür, sie wollte sie öffnen, aber sie war abgeschlossen. Die beiden hatten tatsächlich die Türe abgeschlossen. Grundsätzlich war es gar nichts unnormales, denn sie wurden auch auf ihren Zimmern eingeschlossen, und dennoch ... auf einmal fühlte es sich falsch an.
"Tobias, wo bist Du nur ... hol mich hier doch bitte raus ..." Sie hatte keine Wahl. Sie musste warten, abwarten, was passierte.
Es passierte nichts. Nach ein paar Stunden war Zoe in ein neues Zimmer geführt worden und dort blieb sie einige Zeit. Sie bekam nichts mit, das Essen wurde ihr gebracht, aber offensichtlich gab es die Anweisung, nicht mit ihr zu sprechen. Hatten die beiden nur geblufft? Hatten sie das alles nur inszeniert, um von ihr eine Antwort zu bekommen? Sie harrte der Dinge, die da kommen mochten, aber es zehrte an ihren Nerven, dass niemand mit ihr sprach. Alle Versuche blieben erfolglos. Sie wollten sie willenlos machen, aber dieser Gedanke kam dem jungen Geschöpf nicht. Sie war mit sich und ihren Gedanken allein. Tagelang. Bis irgendwann die Türe aufging und ein Mann herein kam, den sie nicht kannte. Er brachte ihr Essen. Zoe hatte aufgegeben, mit irgendwem ein Gespräch zu beginnen. Sie hatte erkannt, dass es keine Chance gab.
Der Mann sprach zuerst:
"Zoe, hör zu, ich bin Juri und komme von Tobias." Sie sah auf und ihn an. Es war ein Mensch. Hoffnung füllte ihre ultramarinblauen Augen, als sie den Namen Tobias hörte. Und im selben Moment aber musste sie sich fragen, ob sie dem Mann vertrauen konnte, oder ob auch das eine Falle war. Sie schwieg. Mit Tränen in den Augen, aber sie schwieg.
"Er wird Dich hier rausholen", der Mann sprach sehr leise. Zu leise für das Rauschen einer Tonbandaufnahme, aber laut genug, dass sie ihn verstehen konnte. Er scheuchte sie vom Bett und tat, als würde er es frisch beziehen.
"Sag nichts, sie könnten es sehen ...", murmelte er und sie verstand nicht. Zoe wusste nicht, dass Kameras in den Zimmern aufgestellt waren. Wusste auch nicht, dass es ein Abhörgerät gab.
"Sie nehmen alles auf Video auf ...", das Mädchen begriff. Sie wusste, was Videoaufnahmen waren. In manchen Tests waren sie wichtig, um die Reaktionen der Versuchsperson festzuhalten.
"Er wird heute Nacht bei Dir sein. Es ist alles arrangiert. Du musst nur bereit sein, zu fliehen. Und Du darfst keine Fragen stellen, bis er Dich in Sicherheit gebracht hat, das alles könnte zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Zwinkere, wenn Du mich verstanden hast." Er schüttelte das Kissen auf und sie zwinkerte. Es konnte natürlich eine Falle sein, das konnte es immer. Aber sie vertraute diesem Mann, der sich Juri nannte. Außerdem war es doch egal, sie verriet doch nichts durch dieses Gespräch, das nicht sie führte.
Juri hustete, was einem Nicken gleichkam und ging rasch wieder an die Türe.
"Essen Sie, AJM-2-Z03", sagte er laut und auf einmal ebenso mechanisch und kalt, wie die Krankenschwester vor einigen Tagen gesprochen hatte, und schloss die Türe. Dabei konnte Zoe nicht einmal mehr genau bestimmen, ob es einige Tage oder ein paar Wochen waren. Sie hatte das Zählen zum einen nie gelernt, und zum anderen ihr komplettes Zeitgefühl verloren. Aber ein wirkliches von "Tag" und "Nacht" kannte sie auch nur durch die festen Zeiten, in denen sie müde wurde, oder morgens aufwachte. Nach dem Himmel hatte sie sich ja nie richten können.
Die anderen, mit denen sie ihr Leben verbracht hatte, würden jetzt sicherlich gemeinsam im Speisesaal sitzen und sich fragen, wo sie war. Wie sie sich selbst wochenlang gefragt hatte, wo Elmer war. Oder das Mädchen, das kurz nach Elmer aus der Gruppe genommen worden war. Man erfuhr nichts, niemals. Aber niemand fragte nach, niemand schien es zu interessieren. Oder sie wurden mit fadenscheinigen Ausreden abgespeist. Zoe war dankbar, dass sie gelernt hatte, zu denken, sich Gedanken über solche Dinge zu machen und zu hinterfragen. Würde Tobias sie wirklich hier rausholen? Sie brachte keinen Bissen runter an diesem Tag, immerzu wartete sie auf den Abend, auf die Nacht, in der Tobias sie hier rausholen wollte.
Die Türe öffnete sich Stunden später, aufgeregt pochte Zoes Herz, doch herein kam nicht Tobias, sondern Juri.
"Es gab Probleme ...", flüsterte er hastig,
"... ist aber grade noch mal gut gegangen. Tobias wartet draußen, komm mit, ich bring' Dich zu ihm. Stell keine Fragen ..." Draußen ... Tobias wartete
draußen, mit einem Mal fürchtete sich Zoe vor diesem "Draußen". Sie regte sich nicht. Juri steckte noch einmal den Kopf zur Türe herein.
"Komm schon, wir haben nur ein paar Minuten bis die nächste Patrouille kommt." Zoe gab sich einen Ruck. Sie musste es jetzt einfach tun, sie wusste nicht, was passieren würde, wusste nicht, ob sie Juri trauen konnte, wusste nichts. Aber sie wollte raus. Sie wollte nach dem "draußen", von dem Tobias ihr Bilder gezeigt hatte und so rannte sie auf leisen Schritten Juri hinterher, der sie durch zwei Türen, einen Gang in einen Raum führte, in dem Schmutzwäsche in Stoffcontainern lag.
"Da durch, unten wartet er auf Dich", er schob Zoe vor eine quadratische Aluröhre, die hinab führte. Sie war gerade groß genug, dass sie sie benutzen konnte. Sie zögerte und sah Juri an.
"Vertraue ...", sagte er nur warmherzig lächelnd, Zoe schloss die Augen und atmete durch, dann nickte sie und stieg in den Wäschekanal.
"Danke", sagte sie leise, er winkte ab und schupste sie an, sodass sie durch die Röhre nach unten rutschen konnte. Es kribbelte im Bauch und für einen Moment dachte sie, als sie unten in einen Wäscheberg vor Waschmaschinen fiel, dass es viel zu kurz angedauert hatte. Dann sah sie Tobias. Er kam schnellen Schrittes auf sie zu und breitete die Arme aus, sie spürte, dass es der "echte" Tobias war. So wie sie ihn kannte, er sah nicht gut aus, ganz und gar nicht gut, aber er war Tobias und sie fiel ihm in die Arme und drückte ihn fest an sich.
"Zoe ...", sagte er erleichtert, auch bei ihm hörte man Tränen in den Augen, wie sie sie in sich fühlte.
"Wo ...", er unterbrach ihre Frage sofort und sie erinnerte sich an Juris Worte.
"Nicht fragen, später, komm jetzt. Wir haben nicht lange Zeit." Tobias nahm ihre Hand und führte sie durch eine Türe auf den Hof. Zoe wollte sich umsehen, doch er zog sie weiter und drückte sie in einen Jeep hinein und deckte sie mit einer Decke auf der Rückplanke zu.
"Sag' nichts, bleib wo Du bist, bewege Dich nicht, bis ich Dir sage, dass Du rauskommen kannst. Ganz gleich, was passiert."
Sie konnte nicht einmal mehr darauf reagieren. [font color="#808080"]
"Vertraue!"[/size] Juris Stimme kam ihr zurück in den Sinn und sie vertraute. Sekunden später polterte es laut und sie hielt sich die Ohren zu. Es war ein Reflex auf das laute Geräusch, das sie nicht sofort ertragen konnte. Der Wagen fuhr los, ohne, dass sie wusste, was ein Auto überhaupt war. Sie musste vertrauen, und das tat sie.
Wahrheit, nichts als die Wahrheit
Tobias war lange gefahren, er hatte erst nach gut einer Stunde angehalten und nach ihr gesehen. Zoe hatte sich die Fahrt über die Ohren zugehalten, sie konnte sich an das laute Geräusch einfach nicht gewöhnen. Jetzt wummerte ihr Kopf, aber sie beteuerte ihm, dass es ihr besser ging. Sie waren in einen anderen, unauffälligeren und leiseren Wagen umgestiegen und weiter gefahren.
Jetzt konnte Zoe auf dem Beifahrersitz sitzen. Das Brummen im Kopf wurde zum Kopfschmerz, obwohl die Lautstärke sich arg gemindert hatte. Sie sah vor sich auf die dunkle Straße und den noch dunkleren Horizont. An ihr rasten Gebäude vorbei, nicht beleuchtet, alles war düster. Es waren zu viele Eindrücke, die viel zu schnell vorüberzogen. Sie konnte nicht sprechen, ihr war schlecht. Tobias sagte ihr, dass sie schlafen sollte und hielt an, dass Zoe sich auf den Rücksitz legen konnte. Es dauerte nicht lange und sie war tatsächlich voller Erschöpfung eingeschlafen.
Sie fuhren noch gute zwei Stunden weiter und es graute bald der Morgen als das Auto endlich anhielt. Tobias musste sich beeilen, um vor der aufgehenden Sonne in die schützende Sicherheit des Hauses zu kommen. Zoe war kaum zu wecken, sie hatte noch immer Migräne, er spürte es an ihrer Aura und versuchte sie so vorsichtig wie möglich ins Haus zu tragen und ins Bett zu bringen. Schnell schloss er alle Rollläden und ebenso sein Zimmer ab.
Zuvor hatte er Pfeile auf Papier auf den Boden gelegt, damit das Mädchen ihn finden konnte, wenn etwas war, sie aber tagsüber jede Möglichkeit hatte, hinaus zu gehen, solange die Sonne schien. Gerne wäre er dabei gewesen oder hätte sie darauf vorbereitet, aber er wusste, dass er sie nicht hätte zurückhalten können, daher sorgte er vor, damit auch er vor der Sonne geschützt war - vor allem, wenn sie den Kopf vor Freude oder dergleichen verlieren würde und in sein Zimmer stürmen wollte. Es musste einfach abgeschlossen sein.
Doch als er am Abend drauf aufstand, schlief sie noch immer. Es ging ihr schon viel besser und so bereitete er ihr etwas zu essen, richtete das spärliche Wohnzimmer ihrer Zuflucht her und ging sie dann wecken.
"Zoe ... Zoe, aufwachen, Kleines." Sie brummelte, es war, als müsse sie den Schlaf von Jahren nachholen.
"Komm schon, ich hab' Dir etwas zu essen gekocht. Verschlafe doch nicht Dein neues Leben", liebevoll strich er ihr die Strähnen aus der Stirn.
Nach Monaten konnte er endlich wieder lächeln.
"Waahhs?", sie gähnte herzhaft und streckte sich. Dann schreckte sie in den Sitz und sah sich um. Sie war in einem kleinen hellgestrichenen Zimmer mit einem großen Birkenholzbett und einem Schrank mit Spiegel, ebenfalls aus massivem, hellen Holz. Alles sah so anders aus. Anders als dort, woher sie kam, so hatte sie nie ein Zimmer eingerichtet gesehen. Es wirkte warm. Die Nachttischlampe war an, sie spendete genügend Licht, damit sie sich umsehen konnte.
"Wo ...", und sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie nicht mehr im Labor war.
"In Sicherheit", noch immer lächelte Tobias und sie sah ihn an.
"Tobias ... oh man, das alles war kein Traum, Tobias ...", sie strich ihm das halblange Haar aus dem Gesicht, was er eigentlich verhindern wollte, aber er reagierte nicht gleich, weil er nicht daran dachte. Zoe schreckte kurz zurück.
"Was ist passiert?", fragte sie entsetzt und strich vorsichtig die Narbe entlang, die seine linke Gesichtshälfte komplett entstellte. Sie war nicht ekelerregend, aber es war eine Narbe, die er zuvor nicht hatte und die sein Gesicht entstellte. Sie war komplett verheilt.
"Wie ...?" Ihr ging auf, dass er als Vampir doch solch einer Wunde strotzen musste.
"Silber ... es ist egal, es ist in Ordnung." Noch immer lächelte er. Zoe sah ihn weiterhin besorgt an, erst die Narbe, dann wieder in seine Augen.
"Das ist nicht in Ordnung", flüsterte sie betroffen.
"Sie waren das, nicht wahr? Sie waren das, bei denen ich nie glauben wollte, dass sie so böse sind ...", es waren so einfache Worte, aber er wusste, wen sie meinte und senkte seinen Kopf. Er wollte nicht darüber sprechen, er wollte nicht, dass sie auf die Idee kam, dass sie Schuld war. Denn es war seine eigene Entscheidung. Er war das Risiko eingegangen, für sie.
Er hätte das nicht tun müssen.
"Das haben sie wegen mir getan ...", sie begriff schnell, Tobias sah sie wieder an.
"Nein, Kleines, nein, es ist doch nicht wichtig, wie es passierte, es macht mich ganz unglaublich einzigartig." Er grinste sie an, sie konnte nur schwach lächeln, aber sie verstand, auch wenn sie für sich einige Zeit brauchen würde, um mit der Gewissheit zurecht zu kommen, dass man ihm das wegen ihr angetan hatte.
"Na komm schon, Zoe, komm was essen und dann zeige ich Dir, was ich Dir abends zeigen kann und erzähle Dir, was ich Dir vom Tag erzählen kann ...", er wollte klein beginnen, wollte mit der Umgebung beginnen und er war froh, dass sie wieder bei ihm war, damit er vollenden konnte, was er begonnen hatte: Ihr die Freiheit zu schenken, eigenständig in der Realität zu leben.
"Ich möchte ... ich habe Fragen ... viele ...", er nickte.
"Das weiß ich, und ich werde Dir alle Fragen beantworten, aber lass es uns langsam angehen, es gibt jetzt viele Eindrücke für Dich zu bearbeiten." Es fiel ihr schwer, aber wahrscheinlich hatte er recht. Und so zog sie an, was er ihr auf einen Stuhl gelegt hatte und kam ins Wohnzimmer zum Essen. Schon dort gab es so viel zu sehen, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, nach draußen zu gehen. Vor allem aber auch, weil Zoe eine kleine Furcht vor dem "Draußen" hatte. Es war alles so neu, alles so fremd, alles so unglaublich ...
Wer die Welt nicht von Kind auf gewohnt wäre,
müsste über ihr den Verstand verlieren.
Das Wunder eines einzigen Baumes würde genügen,
ihn zu vernichten.
(Morgenstern)
Es dauerte ein paar Tage, bis Zoe sich wirklich auch allein - und am Tag - nach draußen traute. Sie war so überwältigt von all dem, was es allein in diesem kleinen Waldhaus - oder eher Drumherum - zu sehen war, dass sie nachts nicht schlafen konnte. Vor allem ging sie tagsüber hinaus, um alles in seinen Farben zu sehen, und nachts, um die Sterne und den Mond anzuschauen.
Mit jedem Tag und jeder Nacht mehr, erkannte Zoe, was ihr
wirklich genommen worden war. Es dauerte Wochen, bis sie mit all dem zurecht kam. Sie hatte keine wirklichen Negativerfahrungen in ihrer Vergangenheit, bis auf die letzte Zeit, in der so vehement darauf gepocht wurde, dass sie Tobias verriet, aber das konnte sie verkraften. Viel schlimmer war, dass sie damit zurecht kommen musste, dass die ganzen Erfahrungen, die sie ihr ganzes Leben lang machen musste, nicht richtig waren, dass ihr all die Jahre etwas vorgemacht worden war und dass ihr Dinge genommen wurden, die niemals in ihr Leben wieder zurückzuführen waren.
Es lässt sich im Leben doch nichts,
gar nichts nachholen.
Keine Angst, keine Freude,
ja, sogar das Leid kann zu spät kommen.
Jeder Moment hat seine eigentümlichen, unabweisbaren Forderungen.
Die Kunst zu leben besteht in dem Vermögen,
die Reste der Vergangenheit zu jeder Zeit durchstreichen zu können.
(Friedrich Hebbel)
Mittlerweile wusste sie, dass Tobias kurz nach ihrem Zusammenbruch, den sie sich nur mit vampirischen Fähigkeiten erklären konnte, ins Visier genommen worden war. Juri hatte ihm gesagt, dass er gehen musste und so war alles schnell gegangen. Er hatte durch Juri erfahren, wo Zoe hingebracht worden war und was mit ihr passieren sollte. Es schien geplant gewesen, dass er derjenige sein sollte, der Zoe umwandeln sollte. Die Ärztin hatte einen grausamen Plan ausgeheckt. Sie wollte ihm zurückgeben, was er ihr zwei Mal vereitelt hatte.
Sie wollte ihm zeigen, wer der stärkere war, und sie wollte ihm danach das untote Leben nehmen. Zoe war erschrocken über diese Tatsachen, war erschrocken darüber, weil sie ihr trotz des Wissens, dass sie keine "gute" Person war, dennoch nicht so viel Grausamkeit hätte andichten können. Mehr und mehr musste sie das aber für sich zugestehen und das brauchte einige Zeit. War doch die Ärztin trotz allem eine Art Bezugsperson gewesen, auch wenn sie distanziert war und niemals Persönliches erzählte. Aber es war schon immer so gewesen, Zoe hatte es ja nie anders kennengelernt.
Weiterhin erfuhr sie aber auch mehr und mehr vom "großen Ganzen". Der Mann in schwarz, der in seiner Heimatstadt Phoenix in den USA meist unter dem sehr einfallsreichen Namen "Mr. X" bekannt war, war dafür zuständig, sich um solche und ähnliche Angelegenheiten wie die Experimente zu kümmern. Des weiteren gab es eine Giulia in Venedic, nur wenige Autostunden von Phoenix entfernt - Zoe konnte sich vor allem erst einmal gar nicht erklären, dass es noch viel mehr zu sehen gab, als dieses Ministückchen Land im Wald - wohnte und dort ihr Unwesen trieb.
Viele Versuchspersonen - nicht nur Säuglinge, hatte sie besorgt, oder aber diese kamen zu ihr, um angelernt zu werden für die "böse" Seite zu arbeiten. Es gab noch mehr, das Tobias ihr erzählte, es war ein Verschwörungsmuster ohne Gleichen und Zoe konnte sich nur mit einfachen Eselsbrücken erlauben, die Zusammenhänge zumindest im Ansatz zu verstehen.
Tobias hatte viel Geduld und Zoe sehr viel Interesse und war natürlich neugierig, so dass sie viele Gespräche auch immer wieder vertagten, weil gerade ein Eichhörnchen an der offenen Türe vorbeirannte und einen Schlafplatz suchte. Zoe hatte so vieles nachzuholen und Tobias wusste, dass er das nicht von heute auf morgen schaffen konnte. Daher war er froh, dass Zoe selbst die Frage nach ihren Eltern hinten an stellte. Warum, konnte er nur vermuten, zumindest aber tat sie es - und zwar bewusst.
Er hatte versucht, das Thema eines Abend dahin zu lenken, doch sie hatte abgewunken und gesagt, dass das jetzt noch kein guter Zeitpunkt war. Vielleicht ahnte sie, dass ihre Sehnsucht nach der unbekannten Familie ansteigen würde, sobald sei ausführlich darüber sprachen. Sie aber auch wusste, dass sie noch nicht einfach gehen konnte, um nach ihnen zu suchen, weil sie so vieles noch nicht wusste. Auf der einen Seite war Tobias froh, dass es so war, denn er wollte seinen Schützling ungern hergeben. Er wusste aber auch, dass es eines Tages soweit sein würde.
Tobias wartete auf den Tag, an dem sie selbst aus all dem Neuen herausfand und die Fragen nach ihren Eltern wieder aufnahm. Dieser Tag sollte kommen, und er kam etwa fünf Jahre später. Zoe hatte vieles gelernt, sie waren gemeinsam nach einiger Zeit in die angrenzende Kleinstadt gefahren, wo noch viele Dinge mehr auf sie zukamen und sie auch hier lange damit beschäftigt war, Fragen zu stellen und Antworten zu verarbeiten. Es dauerte lange, bis sie sich allein in die Stadt traute und auch erkannte, wie wichtig es wäre, lesen und schreiben zu können.
Das, was sie konnte, war nicht ausreichend, es reichte für bekannte Worte, die dort nirgends auftauchten, oder ihren Namen. Aber sie wusste ebenso wie Tobias, dass das noch etwas sein würde, das unmöglich war auf so kurze Dauer. Sie hatte vielmehr auch keinen Kopf dafür, noch nicht. Die junge Frau ließ sich somit von Tobias Tipps geben, wie sie zurecht kommen konnte, ohne wirklich lesen können zu müssen. Sie hatte von Kind auf ein sehr gutes Gedächtnis, merkte sich, was man ihr sagte, weil sie es sich hatte merken müssen, und so baute sie sich auch hier viele Eselsbrücken.
Hin und wieder versuchte Tobias kleine Lernstunden einzulegen, sobald er das Gefühl hatte, sie nicht zu überfordern. Mit mäßigem Erfolg. Er machte sich gerne aber auch vor, dass er noch so lange Zeit hatte, ihr all das beizubringen. Für ihn war sie wie eine Tochter, und sie empfand Tobias wie einen großen Bruder. Es fühlte sich einfach an, als habe sie einen großen Bruder, für sie war das der passende Ausdruck für einen Bruder. Das Gefühl passte dazu.
Eines Abends saßen sie still vor dem kleinen Häuschen im Wald, in dem sie sich beide mehr oder weniger versteckt halten mussten, weil Tobias wusste, dass die Organisation sehr lange nach ihnen suchen würde. Hier würden sie sie nicht finden. Wahrscheinlich kämen sie nicht einmal auf die Idee, dass sie nur wenige Autostunden von Moskau entfernt waren - in einem kleinen Kaff, oder eher in dessen Wald. In einer Metropole war die Gefahr einfach zu groß. Sie waren überall, und das wusste mittlerweile auch Zoe.
"Kannst Du mir von meinen Eltern erzählen?" Ihr Frage durchschnitt die nachdenkliche Stille und stach wie ein Schwert in sein Herz. Er hatte lange Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, doch es fühlte sich noch immer an, als wäre es nicht an der Zeit.
"Sicher?" Beide wussten, was er wissen wollte. Beide wussten, dass sie nicht mehr lange an diesem Ort bleiben würden, wenn er ihr von ihnen erzählt hatte. Zoe nickte und sah in den schwarzen Himmel, der übersäht war von Abermillionen Sternen.
Das macht uns den Sternenhimmel
so unerfasslich und fürchterlich,
dass wir lauter Summen gegenüberstehen,
lauter Quintessenzen.
Mühelos sammeln wir das All in unserem Auge.
Es ist ein Gedanke ...
- nicht auszudenken
(Morgenstern)
Nun nickte auch Tobias, stand auf und holte eine dicke Akte aus dem Haus. Es war eine wirklich dicke Akte und Zoe konnte mit einem Blick ihren Namen erkennen ... oder eher die Nummer, die sie einst war und die ihr schon als Kind in den Nacken tattowiert worden war. Die letzten drei Stellen sahen aus wie "Zoe", so hatte sich ihr Rufname entwickelt. Tobias hatte eine Kopie der Akte angefertigt, bevor alles aus dem Ruder gelaufen war.
Die letzten Ergebnisse waren nicht enthalten, aber alles weitere, was mit Zoe zu tun hatte. Der ehemalige Organisationsmitarbeiter und sogar -Abteilungsleiter blätterte bis ans Ende, an dessen Stelle die ersten Bögen über Zoe eingeheftet waren.
Man muss lernen, was zu lernen ist,
und dann seinen eigenen Weg gehen.
(Georg Friedrich Händel)
"Wirklich bereit?", er wollte sicher gehen, aber er wusste, dass sie das war und das bestätigte sie schlicht mit einem Lächeln, das ihm zu verstehen gab, dass er selbst bereit sein sollte. Er lächelte, atmete aber gleichzeitig tief durch.
"Okay, ...", er wollte nicht,
"Augen zu und durch",
"... sie heißen Jakov Ivanov-Mostovoi und Anna-Jelena Mostoiova. Sie leben beide in Moskau." Zoe atmete auf. Offensichtlich war sie froh, dass es ihnen "gut ging".
"Moskau ...", flüsterte sie leise und neben sich zu Tobias.
"Ja, sie sind nicht all zu weit weg von hier", er lächelte sie wissend an, mit ein wenig Traurigkeit in seinem Blick, aber ebenso viel Freude, die er ihr geben wollte.
"Wissen sie von mir?", ihre direkte Frage unterbrach den Ansatz, den er fortführen wollte. Es war aber logisch, dass sie das viel mehr interessierte, als wie alt die beiden waren oder welches Auto sie fuhren. All das aber stand ebenso in der Akte.
"Nein", er beobachtete ihre Mimik, es war nicht herauszulesen, ob sie das erleichterte oder betrübte, und ebenso mischend waren Zoes wirkliche Gefühle. Auf der einen Seite war sie froh darum, dass sie nichts von ihr wussten. Wenn sie von ihr gewusst hätten, hätten sich viele Fragen darüber aufgetan, warum sie nicht verhindert haben, was passiert war. Das war auch Zoes größte Angst gewesen, auf das Thema ihrer Eltern zu sprechen zu kommen.
Auf der anderen Seite war es Betrübtheit, denn sie hatten eine Tochter und wusste nichts von dieser ... vielleicht ...
"Denken sie, dass ich gestorben bin?" Tobias nickte.
"Bei der Geburt sozusagen. Man hat Dich ihnen nicht einmal in den Arm gelegt", sie wollte gar nicht wissen, woher er das wusste. Diese Akte schien einfach grausam detailgetreu zu sein.
"Sie wollten mich nicht sehen? Will man das Kind nicht sehen, auch wenn es tot ist?" Sie konnte es sich nicht recht vorstellen, wusste aber selbst nicht, ob sie es gewollt hätte.
"Sie entschieden sich dagegen ... ihr Schmerz war sehr groß", erklärte Tobias, wirklich fast so, als wäre er dabei gewesen, fast so, als hätte er vielleicht ...
"Hast Du je persönlich mit ihnen gesprochen?" Tobias senkte seinen Blick aus ihrem und nickte.
"Erzähl mir davon ... bitte ...", obwohl Zoe merkte, dass sie einen wunden Punkt traf, konnte sie nicht anders, und obwohl Tobias gerne nichts weiter gesagt hätte, wusste er um seine Schuld. Vor allem aber auch, dass er in Zoes Schuld stand.
Immer wieder waren sie an einen Punkt gekommen, an dem Tobias erzählen musste, dass er an so vielem Schuld war. Zoe hatte ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht, obwohl sie Tausende Gründe gehabt hätte, ihn zum Teufel zu jagen. Er wusste nicht, ob es jetzt auch so sein würde - und hatte Angst davor.
"Ich war der Arzt, der Dich und ... der Dich entbunden hat. Ich war der Mann der Krankenschwester, Olga hieß sie, die Deinen Eltern sagte, dass Du nicht überlebt hättest. Ich war damals nicht ganz ... klar im Kopf. Ich habe mich um ihr Seelenheil nicht gesorgt, sie waren mir ... sie waren mir egal." Es fiel ihm unendlich schwer, Zoe schwieg. Sie hörte ihm zu und schwieg, wie sie es immer tat. Er wollte sie nicht ansehen.
"Meine Frau wollte das alles nicht mehr, sie konnte es nicht mehr mit sich vereinbaren. Sie verließ die Organisation, bat mich, mit ihr zu gehen, aber ich konnte nicht. Ich hab' es nicht eingesehen, war wie ... auf einem anderen Stern. Fixiert auf ein Ziel ... ach, ich weiß auch nicht, was in mir vorgegangen ist", er nahm sich einen Moment des Ausatmens und fuhr dann fort:
"Sie verließ mich und drohte damit, zur Polizei zu gehen. Sie haben sie eingesperrt, einfach eingesperrt, wollten sie dazu bringen, dass sie still ist, wollten sie überzeugen ... ich habe alles daran gesetzt, dass sie sie nicht töten und so blieb sie eingesperrt."
Nach einem Moment der Stille fügte er noch in Gedanken versunken an:
"Ich weiß nicht, was besser gewesen wäre. Irgendwann aber, als ich selbst begann, weicher zu werden, brachten sie sie um. Es war eine Drohung und ich sprang, gehorchte dieser Drohung einfach, aber es öffnete mir auch die Augen." Eigentlich wollte er von Zoes Eltern sprechen, aber er rutschte in seine Schuld, die er sich von der Seele sprechen wollte, ja musste, und Zoe hörte weiter still zu.
Er hob den Blick und sah sie an.
"Es tut mir so leid, Zoe, es tut mir so unglaublich leid ...", Tränen standen in seinem Blick. Zoe streckte die Hand nach ihm aus, auch ihr Blick wirkte glasig. Er zögerte, doch dann nahm er die weiche Hand in seine und lächelte schmerzlich.
"Erzähl einfach weiter, ich mache Dir keinen Vorwurf ...", und den machte sie ihm tatsächlich nicht. Sie wusste, dass er Fehler gemacht hatte, aber sie wusste auch, dass er jetzt anders war. Und nur das zählte. Für sie war es keine Frage, ihm zu verzeihen oder nicht.
Er hatte seine Schuld auf eine kleine Weise wieder gut gemacht - ihr gegenüber. Er hatte daraus gelernt, hatte Gutes getan, nur das war einzig das, was zählte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nie gelernt hatte, jemandem solcherlei Vorwürfe zu machen. Und wenn sie schon Schwierigkeiten hatte, einer boshaften Frau Schlechtes und Schuld zuzuschieben, warum sollte sie bei Tobias hier weniger Probleme haben?
"Okay ...", begann er dann leicht schmerzlich lächelnd und besann sich auf ihre Frage zurück.
"Deine Eltern wussten somit natürlich, dass es Dich gab, aber sie dachten eben, Du seiest nicht mehr am Leben. Man hat Dich ihnen einfach weggenommen." Er schluckte. Bisher hatte sie nicht tief emotional reagiert, wie es auch zu erwarten war, wenn man seine Eltern nicht kannte und gleichzeitig nicht mit einem Wissen aufgewachsen war, was Eltern überhaupt waren. Dass ihr Wunsch, sie kennenzulernen, groß war, war verständlich.
Tobias rechnete damit, dass, wenn sie sie sehen würde, die Gefühle von allein kamen. Viele Menschen konnten sich das vielleicht nicht erklären, aber es lag an der Aura, die einen spüren ließ, wohin man gehörte. Gestört könnte das nur durch ein negatives Grundbild des Elterncharakters liegen, aber er wusste, dass Anna und Jakov alles andere als schlecht waren. Die Bindung zur Mutter wäre noch stärker ausgeprägt, als zum Vater und er wusste einfach sicher, dass Zoe sich ihren noch tief verborgenen, ganz instinktiven Emotionen hingeben würde, wenn es soweit war.
Allerdings gab es da noch etwas anderes. Etwas, das gerade bei einem Zwilling - auch unwissentlich - überaus ausgeprägt sein konnte, meist es sehr sicher auch war. Man suchte sein Leben lang, man wusste, dass etwas fehlt, ob nun bewusst oder unbewusst war gar nicht wichtig. Es fehlte etwas im Leben, und man würde nie herausfinden, was es war, wenn man nicht mit der Nase draufgestoßen würde. Und das war nun Tobias' Aufgabe in diesem Moment.
"Sie waren sehr traurig, ich denke, das ist klar. Sie haben ein geliebtes Kind verloren, auf das sie sich so lange gefreut haben. Aber es gab noch etwas anderes ... jemand anderen ...", begann er umständlich und er meinte fast, unsensibel zu sein, doch sie sah ihn nur fragend an,
"... in dieser Nacht kam auch Dein Zwillingsbruder zur Welt ..." -
"Mein ... ich habe ... ich habe einen Bruder, einen richtigen ...?" War das erste, das aus ihrem erstaunten Gesicht hervorpurzelte ...
"Einen ... Zwillingsbruder", ihre Augen wurden noch ein Stück größer, sie saß nun kerzengrade und offensichtlich hatte sie im ersten Anlauf überhaupt nicht begriffen, dass sie nicht nur einen Bruder, sondern einen Zwillingsbruder hatte.
Was ein Zwilling war, wusste sie. Unter den Leuten, die mit ihr im Labor gelebt hatten, hatte es auch zwei Mädchen gegeben, die Zwillinge waren. Dass dies aber auch mit unterschiedlichen Geschlechtern möglich war, war ihr nicht bewusst gewesen.
"Einen Jungen und er ist mein Zwilling? Mein Bruder ... jemand, der so alt ist, wie ich und aussieht wie ... er kann doch gar nicht aussehen wie ich, Tobias. Das geht nicht, ich bin schließlich weiblich und er nicht ... hoffe ich ...", sie wirkte verwirrt. Es gab mehrere Situationen, in der er solche Verwirrungen unbeabsichtigt hervorgerufen hatte.
Sie hatte nur ein gefährliches Halbwissen. Er musste das Wissen, das er an sie vermittelte, in verträgliche Happen einteilen, viel zu viel wäre einfach wirklich viel zu viel gewesen für ihr so gefordertes Köpfchen. So wusste sie, was Zwillinge waren, aber nun einmal nicht, wie das biologisch möglich war. Er hatte ihr vor Jahren von Geburtstagen, Geburten und ähnlichem erzählt, aber deswegen verstand sie noch lange nicht die Hormonbiologie oder Genetik. Wobei letztere mittlerweile schon, weil sie sie im Bezug auf die Versuche angeschnitten hatten. Angeschnitten ...
"Er sieht nicht aus wie ein Mädchen, ... denke ich", natürlich musste er das einwerfen, denn er hatte ihren Bruder nur als Baby gesehen und kräuselte leicht seine Stirn in lustige Falten, auch wenn er die Situation mitnichten als weniger ernsthaft beurteilte.
"Was ich meine, ist, dass Zwillinge auch beide Geschlechter haben können. Zwillinge müssen auch nicht gleich aussehen, das kommt auch immer darauf an, ob sie eineiig oder zweieiig sind. Du weißt noch, was ich damals zum weiblichen Zyklus gesagt hatte?" Zoe nickte aufmerksam und still, hinter ihrer Stirn arbeitete es, er konnte es sehen.
"Und eben hier geht es darum. Wenn Zwillinge in einem Ei entstehen, sind viele äußere Merkmale in der Regel gleich, entstehen sie in verschiedenen Eiern, was auch möglich ist, sind sie sich nicht zwingend ähnlich - zumindest nicht so sehr, wie es eineiige Zwillinge sind. Ihr seid zweieiige Zwillinge, es könnte sein, dass Ihr gleiche Merkmale habt, aber es ist nicht unbedingt zwingend, dass Ihr Euch ähnlich seht." Zoe atmete lautlos durch.
"Einen Bruder ...", er nickte,
"... ich habe einen Bruder, einen Zwillingsbruder ...", sie sah in den Himmel und dann sehr zügig wieder zu ihm,
"... ist er ... ist er auch?"
"- Nein, er blieb bei Deinen Eltern. Die ... die Gefahr war zu groß, dass sie Euch hätten sehen wollen, wenn keiner von Euch beiden bei ihnen geblieben wäre. Ich habe ihnen erklärt, dass ihr eineiige Zwillinge gewesen wart und dass die Wahrscheinlichkeit, dass, wenn es sich um ein Mädchen und einen Jungen handelt, das Mädchen stirbt, sehr hoch ist. Das stimmt auch, wenn es denn so gewesen wäre." Er wusste, dass Zoe es nicht ganz verstand, sie hatte nicht das Wissen, jetzt noch hinzuzufügen, dass es Ausnahmen gab, wo er doch gerade erklärt hatte, dass unterschiedliche Geschlechter eindeutig darauf hinweisen, dass sie zweieiige Zwillinge gewesen sein mussten.
Aber sie wusste eben, dass es generell überall Ausnahmen geben konnte und da sie momentan mit einer ganz anderen Sache beschäftigt war, war es für sie irrelevant hier noch in die Tiefe zu gehen. Medizinisch gesehen jedoch hatte Tobias den Eltern eine Wahrheit erzählt, auch wenn es nicht auf diese Zwillinge zutraf.
"Weiß er von mir?" -
"Das weiß ich nicht. Ich habe Eure Eltern nicht mehr gesehen seither. Nun ja, jedenfalls nicht gesprochen. Sagen wir es so." -
"Du hast sie aber gesehen?" Tobias nickte.
"Und ...? Geht es ihnen gut? Wie geht es meinem Bruder und wie ... weißt Du, wie er heißt?" Jetzt kamen die Fragen geballt und der Vampir spürte, dass sie fühlte, wie sich ihr suchender Kreis schloss. Ob ihr das selbst bewusst war, vermochte er allerdings nicht mit Sicherheit zu sagen.
"Ich bin hingefahren, kurz bevor ich Dich da rausgeholt habe. Es geht ihnen offensichtlich gut. Deinen Bruder habe ich nicht gesehen. Er dürfte aber auch nicht mehr zuhause wohnen. Jedenfalls wäre das eher unüblich. ... Sein Name?" Tobias blätterte in den Akten.
"Nikolai, er heißt, ja ... er heißt Nikolai", er lächelte und freute sich, dass er ihr etwas über ihn mitteilen konnte, wenngleich es nicht viel war. Allerdings war es für Zoe viel. Ein Name bedeutete immer viel, denn die meisten im Laboratorium waren mit diesem dazu übergangen die Zahl, unter der sie aufgerufen wurden, nur noch dann oder für die Akten zu verwenden.
"Nikolai ...", flüsterte die junge Frau fast andächtig und sah zu den Sternen. Tobias schwieg und überließ sie ihren Gedanken, bis erneut eine Frage kam, mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte.
"Sieht er eigentlich die gleichen Sterne, wie ich?" Der Vampir sah lächelnd zu ihr rüber, Zoe blickte noch immer in den nächtlichen Himmel, wirkte sehr abwesend und doch aufnahmefähig. Heute würden sie weiterhin darüber sprechen, dass der Himmel überall zu sehen, aber nicht in jedem Ort die gleiche Zeit war ...
Moskau
Wie Tobias es vermutet hatte, wuchs der Wunsch in Zoe bald haltlos heran, ihre Herkunft nun auch real zu "erforschen". Sie hielt eine sehr große Distanz zu Gefühlen, die sie nicht kannte und nicht einschätzen konnte, daher war das Wort "erforschen" treffender, als alles vergleichbar emotionalere. Zoe wollte schlicht wissen, woher sie kam, sie wollte es nicht nur erfahren. Tobias war darauf vorbereitet, auch wenn es ihm noch immer zu schnell zu gehen schien. Er bereitete das Mädchen darauf vor, dass sie vorsichtig sein musste, was die Gefühle der Eltern anging, die so lange glaubten, ihre Tochter sei bei der Geburt verstorben.
"Ich bin ja nicht blöd ...", gab sie ihm zur Antwort, aber sie meinte es nicht so böse, wie es klang, und das wusste er auch.
Er musste sie allerdings nicht nur auf diese Vorsicht aufmerksam machen, sondern vor allem darauf, dass sie sicherlich weiterhin gesucht wurden, auch wenn es jetzt schon Jahre her war. Moskau war nun einmal nicht nur die Heimatstadt ihrer Familie, sondern auch die Stadt, in der das Zentrum der Organisation lag. Sie mussten damit rechnen, dass die Familie weiterhin observiert wurde, weil allgemein hin bekannt war, dass man seine Wurzeln suchte, wenn man sie nicht kannte.
Sicherlich würde man irgendwann aufgeben. Aber wann, das konnte Tobias nicht sagen. Es hatte noch niemanden gegeben, der von dort ausgebrochen war. Wenn es nur die leisesten Anzeichen gab, durfte sie ihre Eltern nicht im Haus besuchen. Vielleicht sogar nicht einmal irgendwo treffen. Doch Tobias versuchte diesen Hinweis so klein wie möglich ausfallen zu lassen, um ihre Hoffnung nicht gänzlich zu zerstören.
So machten sich die beiden auf den Weg zur großen Hauptstadt Russlands. Tobias wurde zunehmend nervöser. Er unterdrückte seine Aura gänzlich, aus Angst, man könnte ihn daran erkennen. Als sie einige hundert Meter vor dem kleinen, hübschen Häuschen der Familie angekommen waren, blieben sie lange im Auto sitzen und schwiegen. Niemand war zu sehen, aber es war auch nicht verwunderlich, denn es war Nacht und im Haus war der Schlaf eingekehrt. Zoe wusste, sie würde allein am Tag wiederkommen müssen. Zumindest hatte sie dann die Chance, dass kein Vampir hier observierte. Es beruhigte sie etwas, und auch Tobias, obwohl es ein Trugwunsch war, denn Menschen konnten ihr ebenso gefährlich werden.
Tobias hatte ein Zimmer im Hotel in der Nähe gemietet. Zoe musste somit nur einige hundert Meter weit gehen, um dort abermals in der Nähe des Hauses zu stehen. Es war eine kleine private Pension, von außen als Hotel mitnichten zu erkennen. Zoe versteckte sich in einem kleinen Waldstück hinter dem Garten ihres Elternhauses und konnte das Häuschen beobachten. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und noch viel mehr, als die Hintertüre geöffnet wurde, und sie ihre Mutter herauskommen sah.
Sie jätete den Garten und Zoe traten die Tränen in die Augen, dass sie nicht einfach zu ihr laufen und sie umarmen konnte. Überwältigt von dererlei Gefühlen tat sie die nächsten Tage nichts mehr, als im Wäldchen zu stehen und nicht näher zu gehen. Sie sah auch ihren Vater an einem Wochenende zwei Mal und immer schwerer fiel ihr, sich zurückzuhalten. Es ging ihnen wirklich gut und sie hatte das dunkle Haar ihres Vaters geerbt. Die Mama war kastanienbraun gelockt.
Tobias hatte eine kleine Kamera installiert, um die Umgebung des Hauses beobachten zu können und auffällig war mitunter, dass es immer ein Auto in der Nähe gab, aus dessen Inneren ein bis zwei Personen nie ausstiegen. Für ihn war dies ein deutlicher Hinweis. Noch deutlicher war es, als einmal ein Wagen vorfuhr, dessen Nummerschild er nur zu genau kannte. Ihm war klar, das Zoe dieses Haus nie betreten können würde und dass es zu früh war, die Eltern zu treffen. Er konnte sie aber nicht abhalten, sich weiterhin zu verstecken und sie zu beobachten. Einmal telefonierte die Mutter freudig im Garten. Sie vernahm durch die Windstille an diesem Tag den Namen "Nikolai", auch wenn sie sonst nichts verstand. In diesem Moment war es ein reines Zusammenreißen, dass sie nicht doch auf das Elternhaus zulief ... Er lebte. Es ging ihm gut. Sie war sicher, dass es ihm gut ging. Ihm ... ihrem Bruder. Wo er aber war, konnte sie nicht heraushören.
Dafür aber Tobias, der Mittel und Wege durch Juri kannte, an die Telefondaten der Familie heranzukommen und somit hatte er wenige Tage später eine neue Information für das Mädchen, dessen Sehnsucht seit diesem Zeitpunkt enorm gewachsen war. Wenn sie schon ihre Eltern nicht besuchen konnte, so wollte sie zumindest ihren Bruder suchen. Beide glaubten nicht daran, dass auch er observiert werden würde. Früher oder später würde das Mädchen zu den Eltern gehen, Tobias wusste, dass die Organisation so dachte.
"Er ist in Amerika. Wenn er es wirklich ..." -
"Er war es ganz bestimmt wirklich. Sie hat ganz deutlich seinen Namen genannt und es war eindeutig, dass sie mit ihm, nicht über ihn gesprochen hat." Zoe war von diesem Denken definitiv nicht abzubringen und es konnte schließlich überaus gut möglich sein.
"Amerika ... er ist also in Amerika. Ich konnte leider nicht ganz bestimmen, wo genau. Der Anruf kam aus einem Venedic. Das Problem aber ist, dass ich nirgends einen Ort mit diesem Namen gefunden habe. Auf keiner Landkarte und auch im Internet nicht. Es gibt ein Venedig in Italien, nicht aber eins in Amerika ... eigentlich." Es klang wirklich verwunderlich - zumindest für eine "normale Person" - Zoe aber zuckte mit dem Achseln.
"Dann werde ich den Ort wohl dort finden müssen." Für sie gab es keine Verwunderung, wenn es einen Ort auf keiner Landkarte gab. Für sie hatte es vor nicht einmal 6 Jahren noch nicht einmal Landkarten gegeben. Dass weiße Flecken auf dieser, vor allem in Amerika, doch sehr sonderbar waren, erschloss sich der jungen Frau nicht.
Doch noch bevor eine Reise nach Amerika geplant werden konnte, die Ausweise mit falschen Namen waren schon längst vorhanden, wurde Tobias entdeckt. Er war nachts zum Einkaufen gefahren, er wollte neue Lebensmittel für Zoe besorgen, die durch all die Aufregung und neuen Eindrücke starke Kopfschmerzen hatte und im Zimmer lag, um zu schlafen. Tobias konnte sich außer Gefahr bringen und die Verfolger abhängen, aber er wusste, er durfte nicht zu Zoe zurückkehren, da sie nun nach ihm suchten. Er rief in der Pension an, Zoe konnte kaum zuhören, so schlecht ging es ihr, aber sie begriff, dass es Schwierigkeiten gab.
"Zoe, wenn es so ist, dass ich mich morgen Abend nicht bei Dir melde, dann verschwinde aus der Stadt. Du musst aus dieser Stadt verschwinden, hörst Du? Die Tickets sind bei Dir, Geld versuche ich Dir irgendwie zu übermitteln. Ich weiß nicht, wie, aber ich versuche mein Bestes. Geh', denke nicht daran, was mit mir passiert ist, denke nicht darüber nach, geh' einfach. Wenn ich in Ordnung bin, werde ich Dich in Amerika finden. Ich werde Dich finden, verlass Dich drauf, egal wie lange es dauert." Dann wirkte er gehetzt, sie konnte nicht mehr sagen, was sie sagen wollte.
"Ich muss los, ich muss weg hier ... vergiss nicht, was ich Dir gesagt habe. Der Flug geht in drei Tagen. Gehe nicht aus dem Haus, gehe nicht mehr in die Nähe des Hauses Deiner Eltern. Versprich es mir ... versprich ... ich muss ... ich kann nicht, ich muss auflegen ..." - klick - Zoe traten die Tränen in die Augen, was den Schmerz in ihren Schläfen nicht besser machte.
Tobias sollte sich nicht mehr melden. Sie wartete lange, aber er meldete sich nicht. Es kam auch kein Geld, wie er es schicken wollte und Zoe musste unter größter Anstrengung dem Drang widerstehen, ihn selbst suchen zu gehen. Er würde sie finden, sobald er konnte, darauf musste sie sich verlassen, darauf musste sie ihre Hoffnung stützen und durfte nicht daran denken, dass ihm vielleicht etwas passiert sein könnte.
Die freundliche Frau, die die Zimmer vermietete, brachte das Mädchen an den Flughafen, als es soweit war. Zoe hatte ihr erklärt, dass sie noch nie geflogen sei und die Frau half ihr, bis zum Gate zu kommen. Es waren so viele Eindrücke, so viele Leute, so viel Verkehr, dass Zoe sich gewünscht hätte, Tobias wäre an ihrer Seite und könnte ihr ihre vielen Fragen beantworten. Aber sie war neugierig genug, dass sie keine Angst vor dem Fliegen hatte. Viel mehr hätte sie daran noch mehr Spaß finden können, wenn ihre Reise in die Ungewissheit nicht allein hätte stattfinden müssen - unter der Sorge, dass Tobias vielleicht doch etwas zugestoßen war.
Auf sich allein gestellt
Tobias hatte daran gedacht, ihr einen Fensterplatz zu besorgen. Sie würde nicht viel sehen konnten, da er wegen sich selbst einen Nachtflug hatte buchen müssen. Aber sie konnte das Kribbeln im Bauch fühlen, als sie abhoben und die Stadt mit ihren unsäglich vielen Lichtern für wenige Momente von oben betrachten. Es war ein Schauspiel, von dem sie sich nicht so schnell hätte losreißen können, doch es dauerte nicht lange und man sah nichts mehr. Es war stockdunkel außerhalb des Flugzeuges. Doch für einen Augenblick hatte Zoe erahnen können, wie groß die Welt war, wie groß sie wirklich war. Eine Ahnung, das wusste sie, aber eine unglaubliche, wenn man sich ihre Gedanken dazu vorstellte.
Sie bekam ein Abendessen nach einiger Zeit Flug und kam des weiteren mit ihrem Sitznachbarn, einem intellektuell aussehenden älteren Mann mit witziger Krawatte, ins Gespräch. Er war Schriftsteller und fragte, welche Bücher sie gerne las. Zoe antwortete schlicht, dass sie noch keines gelesen habe, woraufhin er ihr mit großen Augen erklärte, dass das gar nicht ginge. Es war kein Vorwurf, eher ein Werben. Nicht für sich, viel mehr für Bücher selbst. Sie fragte nach seinen liebsten Büchern, nach seinen eigenen und fragte, um was es ging und ob er ihr davon erzählen wollte. Und wie er wollte.
Der Autor erzählte ihr sagenhaften Geschichten von allerlei möglichen und unmöglichen Abenteuern, sodass Zoe ganz begeistert war. Sie musste lesen lernen, das wusste sie schon lange, das wenige, das sie jetzt konnte, war nicht ausreichend, um ein Buch zu verstehen, aber auch Tobias hatte ständig gesagt, dass man ohne zu lesen nicht weit kam. Zoe aber wollte weit kommen. Nach einiger Zeit wurde sie sehr müde. Sich all das vorzustellen, was der Schriftsteller ihr erzählte, überanstrengte ihr neugieriges und fast überfordertes Köpfchen. Sie schlief irgendwann einfach ein.
Der Autor, den Zoe schlicht Victor nennen durfte, weckte Zoe kurz bevor die Maschine zur Landung ansetzte und die Passagiere gebeten wurden, sich wieder anzuschnallen. Sie hatte den Flugfilm verpasst, den sie gerne gesehen hätte, weil sie grundsätzlich alles gerne in sich aufnahm, was mehr oder weniger neu war, aber das noch heftigere Kribbeln im Bauch, als das Flugzeug Landanflug nahm, machte alles wieder wett. Es war weiterhin dunkel, aber die näher kommenden Lichter faszinierten auf ihre Weise. Es wirkte kleiner als das mit über 10 Millionen Einwohnern besiedelte Moskau, aber nicht weniger imponierend. Für Zoe waren schon mehrere hundert Einwohner mehr Personen, als sie es vor wenigen Jahren noch gewohnt gewesen war. Ihr persönlicher Umkreis hatte sich nie mehr als auf 25 oder 30 Personen bezogen - und es waren immer dieselben.
Hin und wieder gab es Besucher. Besucher wie den Mann in Schwarz, den Tobias "Mr. X" nannte und der in Phoenix, der Stadt, in der das Flugzeug gerade zur Landung ansetzte, ansässig war. Etwas mulmig wurde Zoe bei dem Gedanken, aber sie konnte sich nicht aussuchen, wohin sie ging, wenn ihr Bruder sich entschlossen hatte, in dieser Gegend zu sein. Durch die mehreren Besucher, die zumeist kein Russisch gesprochen hatten oder es sprechen konnten, verstand Zoe auch mühelos Englisch, Deutsch, Spanisch und Italienisch, aber ebenso ein bisschen Französisch.
Sie sprach Englisch recht gut, allerdings mit einem russischen Akzent und Worte, die ihrem Vokabular fehlten, ersetzte sie durch andere Sprachen. Ihr gutes Sprachverständnis ließ sie die Sprachen ohne weiteres auseinanderhalten, solange sie sich darauf konzentrierte. Sie war allerdings in einem solchen Sprachwirrwarr aufgewachsen, dass sie zumindest bei Aufregung Worte und Ausdrückte vermixte. Verstehen konnte sie die Sprachen in den meisten Fällen allerdings flüssig. Für Zoe war es vor allem als Kind einfach so gewesen, dass verschiedene Leute für ein und die selbe Sache einfach verschiedene Ausdrücke hatten.
Als die Lautsprecherdurchsage im Flugzeug dann auf Russisch, Englisch und Französisch im Flugzeug Anweisungen und Erklärungen gaben, fragte sie sich - wie auch schon vor dem Flug - warum die Durchsage alles mit anderen Worten noch zweimal wiederholte. Da dieses Wundern aber eher im Hinterkopf passierte und sie mit den Augen bewusst aus dem Fenster gestarrt hatte, wurde ihr erst jetzt in ihrer Oralität bei der erneuten Durchsage klar, dass es sich ja um verschiedene Sprachen handelte. Sie musste aufglucksen, um sich nicht selbst auszulachen. Victor grinste in ihrer Richtung, ohne zu verstehen, um was es ging, und sie grinste zurück. Für einen Moment konnte sie vergessen, was ihre Sorge um Tobias betraf, und auch, was vor ihr lag - nämlich ein langer Weg, bei dem sie selbst nicht wusste, wie sie zurecht kommen sollte.
Diese Frage stellte sich aber spätestens dann, als Victor sich von der jungen Frau verabschiedete, nachdem er sie vor das Flughafengebäude begleitet hatte. Sie hatte sich fast unauffällig anschließen können, aber auch wenn dies nicht möglich gewesen wäre, hätte sie schlicht gefragt, ob er ihr helfen könne, weil es ihr erster Flug gewesen sei. Die vielen Menschen auch an diesem Flughafen waren alle in Eile. Es schien in den Großstädten überall auf der Welt nicht anders zu sein. Alle rannten von einem Ort zum unbekannten nächsten, schauten auf ihre Uhren, waren sogar mitten in der Nacht haltlos in Bewegung. Zoe musste sich Zeit nehmen.
Für alles, was sie tat, brauchte sie mitunter eine gewisse Zeit, wenn es keine Routine war. Ein solches Gewusel wie hier auf dem Scottsdale Airport war keine Umgebung, in der sie sich leicht zurecht finden konnte. Sie war froh, als sie draußen stand, aber auch etwas verloren, als Victor sie herzlich und auf russische Art verabschiedete, sich in ein Taxi setzte und abfuhr. Schlecht hätte sie ihn bitten können, sie mitzunehmen. Sie besaß lediglich ein paar Rubel, mit denen sie hier - wie Tobias es erklärt hatte - nicht bezahlen konnte. Es waren auch nicht genügende Rubel, um überhaupt irgendetwas erhebendes damit anzustellen. Wie viel in etwa ein Geldschein wert war, wusste sie. Sie konnte mittlerweile auch die Zahlen unterscheiden, nur rechnen war schwierig, sobald es über 20 hinaus ging, und es mit dem Fingerzählen nicht mehr ganz so einfach und unauffällig war.
Und nun stand sie da. In einer fremden Stadt, in einem fremden Land in einer Sprache, die sie, wie alle Sprache, nicht lesen konnte und sollte sich zurecht finden. Zoe wusste, dass ihre Schriftlosigkeit noch Probleme machen könnte und vertraute darauf, dass die Tipps, die Tobias ihr gegeben hatte, auch in Amerika anwendbar waren.
Aber nicht nur das. Sie sollte von dieser Stadt in eine andere finden, die niemand auf Landkarten finden konnte. Zoe rechnete damit, dass sie dann aber auch niemand wirklich kannte. Vielleicht war es eine ganz kleine Stadt, was ihr die Hoffnung gab, dass sie ihren Bruder möglicherweise doch recht schnell finden konnte. Aber ob groß oder klein, sie war in Phoenix, sie war gestrandet, irgendwo und ohne Hilfe und sie wusste nicht, was nun passieren sollte. Mit aufgeplusterten Backen setzte sie sich mit aufrechtem Rücken auf ihre mittelgroße Reisetasche, blies langsam die Luft aus und sah sich von ihrem Platz in der Nähe des Haupteingangs und der Taxen mit großen, blauen, sehr neugierigen Augen um.
"Und nun?"