Ahnengeschichte
Bedingt durch den Informationsgehalt der Vorgeschichte, wird hier noch auf die epische Vergangenheit verzichtet.
Die Kelten
Die Geschichte der Familie lässt sich bis etwa 100-300 v. Christus zurückverfolgen (mittel- bis spätlatène Zeit) und man geht davon aus, dass der Familienstamm von Beginn an zu den Kelten gehörte und nicht erst irgendwann hinzustieß. Die Aufzeichnungen sind vage und vor allem erst Jahrhunderte später festgehalten worden.
Sogar Cesar belegt in seinen Aufzeichnungen über die Kelten deren Schriftfeindlichkeit. Den Kelten oblag jedoch die hohe Fertigkeit und somit eine Art Kunst, Inhalte mündlich weiterzugeben. Dennoch sind vor allem alle nachträglichen Aufzeichnungen über Vergangenes als unsicher anzusehen.
Jedes Familienmitglied führt in einem Buch Aufzeichnungen über die wichtigsten Ereignisse in seinem Leben und übergibt es dem Ahnendruiden oder sendet es "nach Hause", um es in das große Ahnenbuch eintragen zu lassen. Bestenfalls aber ist er persönlich zu Samhain (Nacht zum 1. November/Hallowe'en - All Hallow's Eve/Vorabend von Allerheiligen) zuhause. Nach keltischer Tradition ist Samhain ein Totenfest, bei dem "die Seelen der Toten zu ihren Heimen zurückkehren". Auch Elis Mutter ist diese Tradition wichtig. Allerdings hat sie sich mittlerweile damit abgefunden, dass Eli erst wieder zu Besuch nach Hause zurückkehrt, wenn er seine Schwester gefunden hat.
Das Ahnenbuch selbst befindet sich an einem für alle anderen geheimen Ort. Verschwindet ein Familienmitglied oder bricht aus der Familienhierarchie aus, wird dieser Ort verlegt (das vorletzte Mal passierte dies, als Elis Bruder zur "anderen Seite" wechselte und danach, als Elis Schwester verschwand). Somit kann die Sicherheit der Aufzeichnungen gewährleistet werden.
"Zuhause" ist in Elis Fall der Ort, an dem seine Mutter wohnt. Sie ist mit Elizas Schulbeginn damals von England zurück nach Irland gezogen, dem Land, in dem sie aufgewachsen ist und der Großteil der Familie und ihre Freunde leben. Dort befindet sich auch der Druide Gael, der die Aufzeichnungen in das Familienbuch einträgt.
Die Druiden waren nicht nur grundsätzlich bei den Kelten wichtige Lehrer, sondern auch in den Vampirfamilien, zu denen auch der Ahnenstamm der Lears zählt. Die Druiden gaben an, welcher Kodex galt, und sie lehrten den Nachkommen Sprachen, Mythen und Wahrheiten nebst dem Lesen, Schreiben und Rechnen.
Die Druidenlehre selbst dauerte nicht nur bei den Menschen sehr lange (20 Jahre), sondern auch bei den Vampiren (zw. 50 und 100 Jahren). Das Schriftverbot ging hauptsächlich von ihnen aus, da der Mensch keine Aufzeichnungen über Vampire finden können sollte.
Eigentlich sollte Elis Bruder Bartholomew jr. den Weg des Druiden einschlagen. Vielleicht war dies mit ein Grund, warum er sich von der Familie abwandte und sich den offensichtlich falschen Leuten in die Arme warf?
Die Familie war zu damaligen Zeiten als Handelsfamilie von Salz und Eisen angesehen. Beides konnte auch tagsüber in den Stollen abgebaut werden, ohne die Menschen mit Nachtaktivität zu irritieren. Das Arbeiten gehörte von jeher zu einer der normalsten Angelegenheiten in der Familie, auch wenn andere Vampire das möglicherweise befremdlich fanden und heute mehr denn je als das empfinden. Eli hat die Einstellung seiner Vorväter übernommen, denn wer nichts für sein Geld tut, kann es auch nicht wertschätzen lernen.
Die Vampire der Kelten machten sich die mythische Anderswelt, wie die Menschen eine Art Jenseits bezeichneten, zu eigen. Die Menschen glaubten, dass die Anderswelt eine Welt auf einer anderen Ebene als der ihrigen sei und beispielsweise durch Höhleneingänge in Seen, auf Hügeln oder Inseln zu erreichen wäre (eine Art irisches Avalon). Jedoch nur unter bestimmten Bedingungen, jedoch unabhängig vom Einverständnis der Anderswelt-Bewohner wie es die mythischen Bewohner waren.
Für die Vampire war dies eine einfache Erklärung für die Menschen, vor allem für jene Vampire, die Menschen aufgrund ihres vermeintlichen Vampirwissens nicht töten wollten. Sie schürten die Mythen, in dem sie die Gerüchte schürten und so war ein Verstecken einfacher zu handhaben, als es unter anderen Bedingungen möglich gewesen wäre. Hilfreich war das vor allem deswegen, weil diese Anderswelt, anders als in anderen Jenseitsvorstellungen, auch von Menschen betreten werden konnte. So konnten Verbündete ebenfalls diese Orte aufsuchen und wieder verlassen, ohne viel Aufhebens um ein Unbeobachtetwerden zu machen.
Somit und auch des Abbaus sowie des Handels mit Salz und Eisen wegen waren die Vampire Teil der menschlichen Gesellschaft, die auf andere Art und Weise lebten. Natürlich aber gaben sie nicht preis, sich von menschlichem Blut zu ernähren oder dergleichen anderes. Fehler passierten, doch den Menschen war bewusst, dass es nicht nur Gute in der Anderswelt gab. Ebensowenig wie es nur Gute unter den Menschen gibt.
Wenn ein Mensch zu den Ihren übertrat, war es deshalb nicht notwendig, dass er sich von seiner menschlichen Familie trennte oder sie gar einweihte. Er musste nur auf die Mythen der Anderswelt zurückgreifen, um lästige Nachfragen zu verhindern oder sich und seine neue Rasse gar selbst zu verraten.
Die Bewohner der Anderswelt konnten ungewollt dorthinein geraten sein und auch zurückkehren und Schaden anrichten. Auch dieser Teil der Mythologie kam den keltischen Vampiren zugute, wie oben erwähnt, auch wenn die Vampire der Familienclans es nicht gut hießen, wenn solche Vorfälle passierten.
Vor allem die Ahnen der Familie Lear waren immer darauf bedacht, sich an gewisse Regeln im Umgang mit den Menschen zu halten. Sie führten einen eigenen Kodex, noch bevor es den heutigen klassischen Kodex gab. In ihm wurde auch festgehalten, dass Menschen selbst wählen durften, ob sie zu den Vampiren zählen wollten oder nicht. Das macht auch deutlich, warum verschiedene Frauen der Ahnenreihe Lear Menschen waren und heute nicht mehr leben.
Diese und ähnliche Punkte des keltischen Kodex' ähnelten später auch dem liberalen Kodex, sodass der Druide der Lears keine Schwierigkeiten hatte, diesen Kodex als neuen Kodex anzuerkennen, als der Kampf um die Kodizes entfachte. Er hätte auch auf den keltischen bestehen können, doch die Gefahr, in diesen Kampf auf eigener Seite hineingezogen zu werden, war zu groß. Des Weiteren brauchte die für ihn so gesehene "gute Seite" Unterstützung und die Entscheidung fiel daraufhin nicht schwer. Einer der Gründe, von denen die Familie sicher sagen kann, dass sie Bartholomew jr. dazu brachte, die Familie zu verlassen und auf einer anderen Seite zu kämpfen.
Familientraditionen
Die keltischen Traditionen sind auch in der Familie Lear groß geschrieben. Dazu gehören die Feiertage der Kelten, die in der Regel eingehalten und auch gefeiert werden (siehe hierzu Elis Steckbrief).
Aber auch berufsbedingte Traditionen sind ihnen von je her wichtig gewesen. Eine Art Ausbildung oder eine Berufung sollte man gefunden haben, bevor man das Haus verlässt. In der Regel finanzieren die Eltern ihre Nachfahren so lange, bis diese auf eigenen Beinen stehen. Das werden sie jedoch nicht tun, solange diese keine Berufung für sich gefunden haben, um überhaupt auf eigenen Beinen stehen zu können. Es ist daher auch nicht unüblich, dass die Nachfahren mehrere Jahrzehnte zuhause wohnen bleiben, auch wenn es sie noch so sehr "in die weite Welt" drängt.
Zuvor ist eine umfangreiche schulische Bildung bei einem Druiden die Regel. Der Druide der Familie Lear und weiteren Familienclans im näheren Umkreis von Limerick ist schon viele Jahrhunderte alt und gilt nicht nur als Lehrer der Nachfahren, sondern auch als seelischer Beistand, Hilfe, Unterstützer, Ratgeber und Entscheidungsträger bei wesentlichen Familienentscheidungen wie die Kodextreue (beispielsweise der Wechsel vom keltischen auf den liberalen Kodex, um die "gute Seite" im Kodexkrieg zu stärken).
Die Minderjährigen lernen bei ihm übliches Wissen über Geographie, Biologie, Mythen, Wahrheiten, die Geschichte der Familie, des Landes und der Welt, Abläufe, Fähigkeitenwissen und Elementares wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Darüber hinaus werden Sprachen gelehrt. Neben dem englischen Unterricht Latein, aber vor allem auch die urkeltischen und uririschen Sprachen, die von Beginn an für die Familie, aber auch für die Familienfähigkeit (Keltikum; siehe im Steckbrief) wichtig sind.
Die Frauen in der Familie
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Ahnengeschichte, aber auch in der allgemeinen Historie keltischer Vampirfamilien, sind einzelne Mythen, die nur deswegen entstanden, weil es Vampire gab. Dies ist den Menschen natürlich nicht bewusst und die Forscher müssen sich damit abfinden, dass es Sagen sind und keine Wahrheiten, weil es nur Erzählungen gibt und keine Nachweise.
Noch Elis Urgroßmutter (Ceridwen Medb; letzteren Namen gab sie sich selbst, um die Mythen ein bisschen zu schüren, weil Medb als Sagenfigur einigen Wert in den Ulster-Zyklen (alt- und mittelirische Sagen und Erzählungen) vorweisen kann) und später auch seine Mutter Meredith, beides Vampire, verfügten über Schutz- und Heilfähigkeiten.
Sie sind beide sehr gut denkende Wesen, die niemandem etwas Böses wünschen. Vor allem Elis Mutter scheint die Heilige in Person zu sein. Sie tötet nicht und ist betrübt, dass keines ihrer Kinder die Fähigkeit des Vergessens von ihr vererbt bekam. Doch auch damit hat sie sich bald abgefunden, denn die Natur der Vampire ist nun einmal, was sie ist: ihre Natur. Vielleicht aber ist es ihrem Einfluss zu verdanken, dass Eli sich davor scheut, einen Menschen für seine Ernährung zu töten, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Jedenfalls wollte sie etwas von ihren Gaben auch weitergeben und nutzte sie, um Menschen von diversen Krankheiten zu heilen, insoweit es in ihrer Macht stand. Heute tut sie das nicht mehr oder nur bei Menschen, die von ihr als Vampiress und damit umzugehen wissen. Die Zeiten, in denen die Bevölkerung an Mythen glaubten, sind in dieser Form vorbei. Somit konnte sie sich nicht mehr auf diese berufen und ihrer Intension weiter nachgehen.
Als dies aber noch möglich war, beriefen sich die beiden Frauen, die mit einer befreundeten dritten mit ähnlichen Fähigkeiten dieser Aufgabe nachgingen, auf Mythen wie die über die Muttergottheiten, die Menschen heilen konnten. Sie wurden als Matronen (Matres) geachtet und geehrt. Eine Verehrung jedoch lehnten sie stets ab. Sie wussten es besser. Matronensteine waren bleibende Beweise ihrer Existenz, doch heute ist man sich nicht sicher, welche genauen Bewandtnisse sie mit sich bringen. Tatsache jedoch ist, dass sie überall in Europa zu finden sind, was den Lear-Frauen beweist, dass sie nicht die einzigen waren, die ihre Fähigkeiten für die Menschen einsetzten, um diese zu heilen und zu schützen.
Dass sie nicht alterten erklärten sie mit dem Mythos der Heiligen Hochzeit, in der es heute heißt, dass eine alte, hässliche Frau zu einer jungen, wunderschönen wurde, um ihrem König als Herrscherin über das Land hilfreich zur Seite zu stehen. So fügte sich die eine Geschichte in die andere, veränderte sich im Laufe der Epochen und wurde irgendwann zur Sage, die keinen wahren Wert aufweisen konnte.
Deutlich wird dies am Beispiel der schriftlich festgehaltenen Mythen von Lebor Gabála Érenn ("Das Buch der Landnahmen Irlands"), das bis ins 17. Jahrhundert als Geschichtsliteratur angenommen wurde, heute jedoch nur noch als kritisch zu betrachtendes Sagenwerk gilt.
In diesen Sagen des mythologischen Zykluses werden auch die Legenden um diejenigen erzählt, die in die sogenannte Anderswelt gingen. Das Volk der (Grab-)Hügel werden sie in den Erzählungen genannt (áes sídhe). Die Zeiten, in denen Vampire jedoch in Gruften wohnten, oder Höhlen, ist schon viele Jahrhunderte vorbei. Die noch lebenden Verwandten Elis haben diese Zeit schon längst nicht mehr erleben müssen.
Lebenslauf
Da dieser Charakter ein NC (Nebencharakter) ist, wird darauf verzichtet, einen ausführlichen Lebenslauf zu schreiben. Jedoch werden die notwendigsten Eckdaten und Ereignisse angegeben, sodass die Trivia keine Lücken aufweist, was es dennoch etwas länger macht. Wichtige Traditionen und Hintergründe sind der Ahnengeschichte (oben) zu entnehmen.
Bartholomew jr.
Nicht einmal ein Jahr vor Elis Geburt gab es einen großen Streit zwischen den Eltern und seinem Bruder Bartholomew jr. Es war nicht unüblich, dass ein Vampir mit 125 Jahren noch auf dem Anwesen der Eltern lebte. Vor allem für Bartholomew nicht, denn sein Vater hätte ihn finanziell nicht unterstützt, wäre er in die Welt gezogen. Er war der Ansicht, dass jeder in der Familie eine Aufgabe haben musste und somit eine Ausbildung in einem Bereich absolvierten sollte, bevor er für die große weite Welt auch wirklich reif genug war.
Solange Bartholomew aber lieber in die Nacht hinein lebte, Frauengeschichten noch und nöcher aufwies und sich an fast keine Regeln halten zu müssen glaubte, schien der Erstgeborene und das bisher einzige Kind der jüngsten Lear-Generation noch nicht so weit zu sein, auf eigenen Beinen zu stehen. Seine Eltern, allen voran aber sein Vater Eliah Fintan Lear verzweifelte darüber, dass sein Sohn, den er sich so sehr gewünscht hatte, seine hochgradige Intelligenz zu vergedeuden gedachte.
Es war nicht selten, dass sie darüber in Streitigkeiten gerieten, doch an diesem Abend schien es besonders schlimm zu sein. Vielleicht weil Bartholomew noch eine Verabredung und somit keine Zeit hatte, sich mit seinem Vater länger auseinander zu setzen. Vielleicht aber auch, weil Eliah der Geduldsfaden endgültig riss. Es wurden Türen geknallt und endete wie immer. Beide gingen ihrer Wege und Eliahs Frau Meredith und Mutter von Bartholomew weinte.
Es war noch früh am Abend gewesen und Zeit genug, dass Eliah seine Frau und sich selbst beruhigen konnte. Als sie zu Bett gingen, war ihr Sohn nicht zuhause, aber auch das war nicht ungewöhnlich. Er würde wohl die Nacht im Bett einer der leichtfertigen Frauen verbringen, die am nächsten Tag wohl nicht mehr erwachten.
Eliah und Meredith hätte klar sein können, was in dieser Nacht geschehen würde, aber keiner von beiden hätte es sich eingestanden, dass er während des Beischlafs an etwas anderes dachte. Und beide schienen den gleichen Gedanken zu hegen: Warum haben wir kein Kind, das mit seiner Intelligenz umzugehen weiß? Warum kein Kind, das sich den Tradtionen angehörig fühlt, das stolz ist, ein Lear zu sein? Wie schön wäre es doch, ein Kind zu haben, das sich erfreute an dem, was es von ihnen geboten bekam ...
Wenige Monate später kam Caspar Eli zur Welt. Ein schon damals sehr aktives Kind, das nur wenig Schlaf brauchte und ihn den Eltern gerne stahl. Aber nicht, weil es weinte oder es Durst hatte, sondern weil es unterhalten werden wollte, lachte und ständig herum gluckste. Sooft zauberte es den Eltern ein Strahlen aufs Gesicht und jedem brachte es Freude, der die Familie besuchte.
Auf wundersame Weise wurde sogar Bartholomew ruhiger. Wirklich bändigen würde man ihn wohl nie können, doch er schien etwas versöhnlicher mit seinem Vater zu sein und mehr zu helfen beim Handel mit Salz und Eisen, in dem Eliah als angesehener Geschäftsmann mitmischte.
Leider schien dieses Wohlwollen nicht von großer Dauer zu sein. Möglicherweise hatte er auch geglaubt, dass der kleine Eli ihm sein Erbe streitig machen konnte, das bei Vampiren grundsätzlich vom Wohlwollen des Vaters abhing, da man nicht davon ausging, dass dieser irgendwann starb. Bartholomew war nicht fähig, diese Fassade lange aufrecht zu erhalten, doch versuchte er sich immer wieder selbst zur Raeson zu bringen.
Mit Eli selbst aber kam er immer gut zurecht. Nur mit der Arbeit hatte er es einfach nicht, und nicht mit Regeln und nicht mit Tradition. Eli aber liebte er sehr - trotz des Gefühls, dass sein Vater ihm wegen Eli das Erbe streitig machen könnte. Er war fair genug, es dem Jüngeren nicht anzulasten.
Eli selbst wuchs, wie bei Vampirkindern üblich, schnell heran, war ein fröhliches Kind und wurde zu einem aufgeweckten Jugendlichen. Er lernte viel und gerne, nur mit all den Sprachen, die er lernen sollte, hatte er es einfach nicht. Bartholomew war hier ein Ass, er half dem Kleinen, so gut er konnte, doch die Konzentration beim Jüngeren ließ schneller nach, als er für sein nächtliches Lernpensum hätte erreichen sollen.
Eliah sah das nicht mit großer Sorge, gewünscht hätte er es sich dennoch anders. Dafür aber brachte ihn die Nachhilfe seines ersten Sohnes auf eine ganz andere Idee.
Mit wenig Begeisterung nahm Bartholomew den Vorschlag seines Vaters auf, bei Gael, einem Vampir-Druiden, der seit Jahrhunderten im engsten Kreis der Familie verkehrte, in eine Druidenausbildung zu gehen, was für ihn bedeutete, er würde zwischen 50 und 100 Jahren lernen müssen. Wobei nicht das Lernen das Problem war, vielmehr die Unlust, überhaupt etwas zu tun oder nach einer Bestimmung zu suchen.
Sein Vater glaubte daran, dass sein Ältester sich währenddessen möglicherweise die Hörner abstoßen könnte und darin auch seine Berufung fand. Es war schlichtweg nicht von der Hand zu weisen, dass er eine Professur fürs Lehren in sich trug, wie kaum ein Zweiter aus den letzten Generationen der Lears.
Da Bartholomew keine anderen Perspektiven für sich kannte und auch wusste, dass sein Vater keine weitere Geduld mehr für ihn aufbringen würde, willigte er ohne Widerworte ein. Vielleicht wollte Eliah nicht sehen, dass Bartholomew dieses Amt nicht bekleiden wollte, vielleicht aber sah er es wirklich nicht, weil sein Sohn seine Rolle zu gut spielte. Später würde er sich oft fragen, ob es falsch war, den Jungen, der doch selbst schon längst erwachsen war, in eine Richtung zu drängen, nur weil die Familientradition es so wollte - und auch er als Vater glaubte, seine Verantwortung darin zu sehen.
Doch Meredith war auch nach all dem, was noch folgen sollte, bis heute sicher, auch wenn sie ihren Mann nie davon hatte überzeugen können, dass es die richtige Entscheidung war, daran festzuhalten. Dass alles so kam, wie es kommen würde, daran sei Eliah nicht Schuld. Es sei das Schicksal, das es so entschieden hätte, sie wussten es doch schon, als Bartholomew ein kleiner Junge war - er war schon immer ein Rebell gewesen, immer ungehorsam und frech - und immer hatte man darüber hinweg gesehen, weil er als Wunschkind einen hohen Stellenwert eingenommen hatte.
Caspar Eli jedenfalls bewunderte seinen großen Bruder viele Jahre. Nur noch mehr, da er mit seiner Klugheit in die Lehre der großen Druiden ging. Dem Druiden Gael, der ihn selbst auch unterrichtete, und von dem Eli glaubte, dass er der weiseste Mann auf der ganzen Welt sein musste. Er war auch so typisch Druide, dass Eli sich auch in der Moderne immer lächelnd zurücklehnte, wenn er dergleichen Schauspieler in Filmen sah: ein langer, weißer, spitzer Bart, Lachfalten um die blauen, allwissenden Augen, eine Kutte zum Gewand und gerne auch einen natürlich um sich selbst gewundenen langen Holzstab in der Hand. Miraculix sah so aus, wie auch Gandalf beim
Herr der Ringe oder Albus Dumbledore in
Harry Potter.
Eli half seinem Vater vor allem bei dessen Geschäften, sodass er ein durchaus guter Händler war, als sein Vater ihm bescheinigte, dass er ihm nun nicht mehr viel beizubringen wusste, was den Geschäftssinn anbelangte. Ungesehen von der Familie oder Gael wütete Bartholomew in sich hinein, dass der Vater ihm nicht die gleiche Anerkennung zukommen lassen konnte, wie Eli.
Als in dieser Zeit dann auch der Kodexkrieg ausbrach und Revolutionäre eine Überholung des seit Jahrhunderten bestehenden klassischen Kodizes verlangten, schien er ehrgeiziger denn je, sich der Revolution anzuschließen.
Von jeher hatte die Familie sich aus dererlei Kriegen herausgehalten, insoweit keine Unschuldigen derart betroffen wurden, dass sie etwas dagegen hätten tun können. Die Ahnen hatten sich auch mit Aufkommen des heute so genannten Klassischen Kodex' nie identifiziert. Sie hatten ihren Keltischen Kodex, der seit so langer Zeit gültig war, dass sie keinen Grund sahen, ihn für einen anderen, ihrer Ansicht nach, schlechteren auszutauschen. Es gab keltische und später auch viele irische Familien und Clans, die sich mit dem klassischen Kodex weiterentwickelten, die Lears zählten nicht dazu und machten sich damit auch keine großen Freunde.
Doch die Freunde, die sie von jeher hatten, blieben - trotz, dass sie die Kodexansicht wechselten. Sie wurden nun selbst von den fanatisch Kodextreuen gejagt, weil sie nicht strikt beim Wortlaut des Kodex' blieben, in dem sie tolerierten, dass es Vampire gab, die anders lebten.
Da die Revolutionäre sich ebenfalls in zwei Lager spalteten, sah Gael sich in seiner Rolle als Druide verantwortlich dafür, die ihm zugehörigen Familien zusammenzurufen, um mit ihnen die Sachlage zu besprechen. Sie war dringlicher denn je. Die Mehrheit der Familienoberhäupter entschloss sich, dem Rat und der Entscheidung des Druiden zu folgen und den liberalen Kodex als den ihren anzuerkennen, um die offensichtlich "gute Seite" mit ihrer Anhängerschaft zu stärken.
Viele mögen auch dem Gedanken auferlegen sein, dass sie später, nach diesem Krieg, wieder zu ihrem ursprünglich keltischen Kodex zurückkehren konnten. Doch der Krieg sollte nie enden - bis zur Gegenwart nicht. Jedoch war der liberale Kodex dem keltischen so ähnlich, dass er für die meisten keine Umstellung bedeutete.
Bartholomew konnte mit dieser Entscheidung nicht leben. Er sprach vor der Entscheidung auf Gael ein, vehement auf seinen Vater, sprach auch mit Eli, der mittlerweile 50 Jahre zählte und längst aus der Bruderfaszination herausgewachsen war. Dennoch respektierte er seinen großen Bruder und liebte ihn, wie man einen Bruder nun einmal liebte. Es war die erste Diskussion zwischen den beiden, die in einem Streit endete, weil Bartholomew sich fast schon fanatisch hineinredete und nicht mehr zu vernünftigen Gedanken fähig schien.
Bartholomew schien davon überzeugt, dass man nur mit Radikalität etwas erreichen konnte. Was er zu erreichen verfolgte, blieb unklar. Eli erfuhr erst Jahre später, dass Kodextreue seine damalige Freundin töteten, die er tatsächlich länger als nur für eine Nacht an seiner Seite hatte, sie der Familie aber nie vorstellen wollte. Offensichtlich wollte er Rache und diese Rache konnte er durch den liberalen Kodex nicht verwirklicht sehen.
Das aufbrausende Temperament Bartholomews und seine vehemente Verteidigung des radikalen Kodex' brachte Gael dazu, ihm in diesen Tagen die weitere Druidenlehre vorzuenthalten. Lange hatte er damit gerungen, vor allem aus der Freundschaft zu Eliah und Meredith heraus, hatte er vieles erduldet und versucht, zu verbessern, doch im Nachhinein, so wusste er jetzt, war es ein Fehler gewesen.
Schon sehr bald nachdem Bartholomew in seine Lehre gekommen war, hatte er erkennen müssen, dass dieser junge Vampir - der er nun einmal war, wenn man mit so vielen Jahrhunderten auf einen 140-jährigen hinabblicken konnte - nicht die Eigenschaften aufwies, die ein Druide aufweisen sollte.
Die Besonnenheit fehlte ihm, die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Er war überaus intelligent, Gael war hier Eliahs Ansicht, aber diese Intelligenz schlug Wurzeln in schwarze Erde, die immer tiefer, immer weiter wuchsen, wuchsen in eine Bösartigkeit, die er immerzu versucht hatte zu verbergen. Gael hatte es gesehen und er hatte geschwiegen. Wie sollte er Eliah jetzt deutlich machen, warum er dessen Sohn nicht weiter lehren konnte?
Da Bartholomew jedoch noch vor Gaels Gespräch mit Eliah ein boshaften Streit mit seinem Vater wegen des Kodexkrieges ausbrach, musste Gael nicht mehr viel sagen, um seine Position zu verdeutlichen. Eliah winkte traurig ab, klopfte dem Druiden auf die Schulter und ging mit zu Boden geneigtem Blick in seine Bibliothek.
Wenige Nächte später entbrannte der nächste Streit, der heftiger nicht hätte sein können. Vater und Sohn schrien sich an, Eli versuchte zu schlichten, doch keiner von beiden wollte auf ihn hören. Meredith konnte nichts weiter, als die Luft anhalten. Mit einer Hand vor ihrem Mund stand sie da und sah kommen, was für Bartholomew eine reine Impulshandlung zu sein schien. Sie hatte Minuten vorher gewusst, was passieren würde.
"AB JETZT KÄMPFE ICH FÜR DIE RICHTIGE SEITE. UND IHR WERDET MICH MIT EUREM FALSCHEN KODEX NICHT DAVON ABHALTEN KÖNNEN! HIER habe ich jedenfalls NICHTS MEHR verloren", die Türe knallte hart ins Schloss, das Geräusch tönte Augenblicke später noch durch die Starre aller Beteiligten nach und wenn Eliah glaubte, dass sein Sohn zurückkehren würde, würde er spätestens in der übernächsten Nacht sicher sein, dass dem nicht so war. Bartholomew kam nie mehr in sein Elternhaus zurück.
London
Über die Jahre blieb Bartholomew verschwunden. Es war selten, dass man überhaupt etwas über Dritte von ihm mitbekam. Und wenn es so war, dann war es nichts Gutes. Die Eltern versuchten es zu ignorieren, um nicht daran zu zerbrechen und Eli hätte seinem Bruder gerne seine Meinung gesagt, aber er unterließ es, nach ihm zu suchen oder ihn aufzusuchen, wenn man mal mitbekam, wo er gerade war. Je mehr schlechte Nachrichten kamen, desto enttäuschter war die Familie und desto hilfloser fühlte sich der Einzelne dieser Situation gegenüber.
Man musste zurück zum Alltagsgeschäft gehen und so war es auch. Man arrangierte sich mit der Situation, auch wenn die tradtionell begangenen Feiertage nie mehr so waren, wie sie hätten sein sollen. Doch "unter dem Jahr" wussten sich alle abzulenken und zu beschäftigen und mit der Zeit wurden auch die Feiertage aushaltbar. Meredith führte nicht mehr sooft an, wie schön es wäre, können sie alle zusammen sein, Eliah machte sich weniger offensichtliche Selbstvorwürfe, auch wenn alle wussten, dass er es in seinem Inneren noch immer tat, und Eli?
Eli half seinem Vater, wo immer er konnte und verzichtete darauf, "die große weite Welt" zu sehen. Er blieb im Anwesen der Familie wohnen, lebte und genoss sein Leben, arbeitete hart und erheiterte seine Eltern mit seiner selbstverständlich fröhlichen Art.
Bis die Zeit der vier Hungernöte anbrach. Mitte des 19. Jahrhunderts gingen die Jahre 1845 bis 1849 als die "Große Hungernot" Irlands in die Annalen ein. Thyphus und Cholera überfiel das schwache Immunsystem der Menschen, fast eine Million von ihnen starb, über 700.000 wanderten nach Amerika aus - die Nachwehen der Missernten. Schon im ersten Jahr sah die Familie die Krise als nicht überwindbar an und musste nach England ziehen, um selbst überleben zu können. Sie wollten die Menschen durch ihren Blutdurst nicht noch mehr schwächen, konnten ihnen aufgrund der unglaublichen Masse an Betroffenen auch nicht unterstützend zur Seite stehen.
Anfangs dachte Meredith, sie könne helfen, doch schon nach den ersten Wochen war sie so erschöpft, dass Gael die Entscheidung für Eliah traf und sie alle wegschickte. Er würde das Anwesen verwalten und das tat er. Nur einige wenige Verwandte blieben in der Heimat zurück - wie Urgroßmuter Ceridwen. Sie war hartgesotten und sah gar nicht ein, zu gehen. Mit Gael verwaltete sie die Geschäfte, die andernorts nicht erledigt werden konnten, und nutzte die Gelegenheit das Anwesen ihrer Enkel einmal richtig auszumisten. Was sie aussortierte, verkaufte sie an fahrende Händler von außerhalb des Krisengebiets, den Erlös setzte sie für Hilfsorganisationen ein, um zumindest einige Menschen in Lamerick unterstützen zu können. Sie war schon immer so gewesen. Äußerlich etwas verhärtet, aber mit gutem Herz.
Meredith mochte die Fremde nicht, sie mochte England nicht und London noch viel weniger, aber sie sah ein, dass es notwendig war und lebte in der Hoffnung, irgendwann zurückkehren zu können. Sie blieben jedoch über die Zeit hinaus. Irland musste sich erholen und die Geschäfte in London gingen gut. Eliah bat seine Frau um Geduld und diese brachte sie sehr viele Jahrzehnte auf. Sie arrangierte sich, wie schon einmal in ihrem Leben, verspürte aber immer diese ungewisse Sehnsucht nach der Heimat.
London erlebte in diesen Jahren eine Hoch-Zeit der Vampirjäger. Eine Begebenheit, mit der niemand aus der Familie je Kontakt gehabt hatte, auch wenn es Jäger immer und zu jeder Zeit gegeben hatte. Man konnte ihnen einfach ausweichen - in Irland - hier jedoch schienen sie viel weiter entwickelt, sich zu Gruppen zusammengerafft zu haben, um keinen Vampir entkommen zu lassen.
Sie waren gut. So gut, dass die Familie der nächste harte Schicksalsschlag traf, als Eliah von einer Gruppe Jägern kaltblütig umgebracht wurde - er hatte keine Chance. Meredith zerbrach das Herz. Eli versuchte sie aufzufangen, doch auch ihn hatte der Tod des Vaters schwer getroffen. Der Vater, der alles immer am Leben erhalten hatte, sollte nun nicht mehr sein. Ein Vampir, von dem man annahm, dass er nie sterben würde - war einfach fort.
Eli begab sich auf die Suche nach seinem Bruder. Erst vor Ort, weil er seine Mutter nicht allein lassen wollte - vor allem weil diese schwanger war. Das letzte Gute in ihr, das ihr Kraft geben konnte und von dem sie wusste, dass in dem Kind der Geist Eliahs weiterleben würde. In diesem und in Eli ... und auch wenn es niemand sonst sehen konnte, war Meredith überzeugt, dass auch in Bartholomew.
"Geh, Eli, Du musst ihn suchen und ihm berichten, er hat ein Recht darauf ...", sagte sie eines Abends und Eli wusste, dass es nötig war. Ceridwen kam aus Limerick, um sich um Meredith zu kümmern und Eli ging auf die Suche nach Bartholomew, von dem er erfahren hatte, dass auch er in England war.
Als sie nach Wochen endlich aufeinander trafen, war die Situation verhalten. Eli war überrascht, wie wenig sich sein großer Bruder verändert hatte, und doch war etwas gänzlich anders an ihm. Er war (noch) härter geworden, unnachgibig. Das Temperament, das er als jüngerer Vampir an den Tag gelegt hatte, war nicht mehr vorhanden. Es hatte einer Art Gefährlichkeit Platz gemacht, die den Älteren umgab. Umso deutlicher spürbar, weil dieser seine Aura nicht zu unterdrücken wusste. Diese Fähigkeit war ihm mittlerweile zwar zueigen, aber er schien nicht darauf zurückgreifen zu wollen.
Das wurde Eli spätestens dann bewusst, als er es doch tat, als er seinem Bruder vom Tod ihres Vaters berichtete. In diesem Moment schien die Gefahr aus ihm zu weichen und er war für Augenblicke und den ganzen restlichen Abend der Bruder, den Eli immer zu kennen geglaubt hatte. Und doch wusste er, dass dies nur vorrübergehend war. Bartholomew würde nicht zurückkehren, viel zu sehr war er schon in seine Machenschaften verstrickt, viel zu sehr mit seinen falschen Idealen verwoben. Es stimmte Eli traurig, aber Bartholomew versprach, dass er sich meldete. Brieflich, vielleicht auch einmal an Samhain zu Besuch kommen würde, wenn die Familie weiterhin in London bleiben sollte. Auch erzählte Eli ihm von dem Geschwisterchen, das bald zur Welt kommen würde. Ein seltsam schönes Lächeln zierte in diesem Moment Bartholomews Lippen.
Was er selbst tat, erlebt hatte, was ihn betraf oder nicht, davon erzählte er nichts, blieb unterkühlt vage in seinen Ausführungen und behielt den Rest gänzlich für sich. Eli sah kein Durchkommen und so verbrachten sie einen trotz allem brüderlichen Abend mit Anekdoten und im Gedenken an den Vater, den Bartholomew trotz allem, was vorgefallen war, sehr geliebt hatte. Es steckte nicht nur Eis in seinem Herz, aber das hatte Eli auch niemals angenommen.
Als sie dann aber auf das Thema der Vampirjägergruppen zu sprechen kamen, erkannte man die alte Inbrust des Hasses wieder, die in Bartholomew so vehement wüten konnte und Eli lenkte das Thema um, um nicht mit ihm in einem erneuten Streit auseinander zu gehen. Sie trennten sich gütlich. Aber auch wenn es eine schöne Nacht war, eine brüderliche, trotz dem traurigen Stern, unter dem sie gestanden hatte, so war beim Abschied dennoch die Distanz zu spüren, über die keine Brücke führte.
Tatsächlich aber meldete sich Bartholomew nun alle paar Monate mit einem Brief an seine Mutter und besuchte seine Schwester Eliza Ceridwen einige Jahre nach ihrer Geburt an ihrem Geburtstag und danach zu so gut wie jedem Samhain. Die Besuche waren aber auch dann sehr verkürzt und auch verhalten, obwohl Bartholomew sich sehr bemühte, seiner Mutter keinen Kummer zu bereiten und er schloss sie immer herzlich und ehrlich in seine Arme. Es war offensichtlich, dass er in diesem Moment nun einmal einfach nur das Kind seiner Mutter war, nichts mehr und nichts weniger.
Eli kümmerte sich ansonsten rührend um die Familie, auch die Urgroßmutter blieb und die Geschäfte liefen weiterhin passabel, sodass es ihnen an nichts fehlen musste. Dennoch blieb eine gewisse Angst, vor allem bei Meredith und noch mehr um Eliza, die zu einem hübschen, rothaarigen Ding heranwuchs und vor allem ihrer verstorbenen Großmutter mütterlicherseits sehr ähnelte. Nur die grünen Augen, sie waren ganz Eliah.
Trotz dieser Angst um ihre Kinder blieben sie in London. Die Zweige, die Eliah hatte entfalten können und die Hoffnung, Bartholomew weiterhin sehen zu können, hielten sie in der ungeliebten Stadt. Bis zum nächsten Schicksalsschlag.
Eliza Ceridwen Lear
Eliza wurde von Tag zu Tag hübscher. Sie war, wie Eli als Kind, ein Sonnenschein, brachte jeden zum Lachen oder zumindest zum Lächeln. Meredith erkannte jedoch schon bald – viel früher als Eli oder Ceridwen - dass Eliza ein besonderes Kind war. Sicherlich war jedes Kind für seine Mutter etwas Besonderes, etwas Einzigartiges, das schönste und beste Kind der Welt – doch Elizas Besonderheit war anders. Es war auch eine ganz andere Art von Faszination, die sie ausstrahlte und mit der sie die Umstehenden für sich gewann, sie gar gänzlich vereinnahmte.
Meredith sah es zuerst an sich selbst. Schon der Umzug nach London und der Aufenthalt in dieser lauten Stadt hatte ihr einiges an Lebensfreude genommen, auch wenn sie versuchte, das so gut wie möglich vor ihrer Familie zu verbergen. Als Eliah starb und ihr mit seinem Tod auf so grausame und ungerechte Weise der beste Freund, ihr Geliebter und Ehemann genommen wurde, fiel sie in eine tiefe Depression, die sich nicht mehr verstecken ließ. Ein Grund mehr für Ceridwen nach London zu kommen, ein Grund mehr für Bartholomew, Elis Bitte zu folgen, der Mutter zu schreiben und sie hin und wieder zu besuchen.
Ein Grund mehr, warum dieses Kind, Eliza, so wichtig war. Sie brauchte jemanden, an dem sie sich festhalten konnte, den sie umsorgen und lieben konnte und der sie bedingungslos zurückliebte. Die unschuldige Liebe eines Kindes und alle atmeten auf, dass es eine Tochter war, die sie zur Welt brachte, und nicht noch einen Jungen. Ein Mädchen, sie hatte sich in dieser Schwangerschaft so sehr ein Mädchen gewünscht, hatte es sich gewünscht, als sie gezeugt wurde ... er wurde ihr erfüllt, dieser Wunsch. Doch zu welchem Preis?
Meredith wollte sich solche Fragen nicht stellen, wollte das Leben Eliahs nicht mit dem Elizas aufwiegen und als Eliza auf der Welt war, musste sie nur in das kleine, hübsche Gesicht blicken, um zu wissen, dass sie sich solche Fragen nicht stellen musste. Sehr bald schon ging es ihr besser, ihr Gemüt hellte sich auf und für alle stand fest, dass das Kind ihr die Kraft gab, weiterzuleben.
Meredith merkte jedoch, dass es das allein nicht sein konnte. Jeden Tag mehr spürte sie, wie fröhlich sie war, je mehr Zeit sie mit dem Kind verbrachte. Anfangs verging die Fröhlichkeit zu großen Stücken, war sie einmal allein ohne das Kind. Doch es entwickelte sich nach und nach ein Dauerzustand, der die Grenzen der Manie stark streifte.
Eli und Ceridwen dachten sich dabei nichts. Sie waren vor allem froh, dass es dem Kind gut ging und dass es Meredith mit diesem und durch dieses viel besser als noch die Monate zuvor zu gehen schien. Die Erleichterung darüber machte sie vor Liebe blind für die Details.
So war es auch kein Wunder, dass die beiden lächelnd abwinkten und die Angelegenheit herunterspielen wollten, als Meredith sich eines Abends zu ihnen setzte und ihre Vermutung teilen wollte.
"Ich bin aber sicher. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dieses Kind besonders ist. Es hat irgendwas an sich, irgendwas macht es mit mir, das nicht normal ist ... und nein", sie hatte sehr wohl bemerkt, dass Eli und Ceridwen vielsagende Blicke austauschten und sich zulächelten,
"... ich bilde mir das nicht ein, weil ich eine Mutter bin, wie viele Mütter, die ihr Kind so sehr liebt und in den Himmel hebt, weil sie endlich wieder etwas hat, an dem sie sich festhalten kann." Sie klang ein bisschen gekränkt und ihre Vehemenz ließ das Lächeln auf den Lippen der Familie ernsthafteren Zügen weichen.
"Du meinst das ernst ...", stellte Ceridwen fest und erntete für diesen unnötigen Kommentar eine leicht schiefe Kopflage und kurz zusammengepresste Lippen mit einer sanften, ernsten Falte auf der Stirn.
"Gut, dann nehmen wir an, es ist so. Was ist Dir aufgefallen?" Und Meredith war eine Menge aufgefallen. Nicht nur ihre eigene Stimmung war merklich angehoben, sondern auch bei Eli hatte sie das beobachten können. Er war schon immer sehr aktiv gewesen, konnte sich schlecht konzentrieren und wenn, dann nicht sehr lange. Er wollte sich nicht zusammennehmen, trieb seine Späße und brauchte ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit. Das war besser geworden, als er erwachsen wurde, aber die Grundtendenzen waren noch immer vorhanden und für jemanden, der ihn von Kindesbeinen an kannte, war es offensichtlich.
Und diese erwachsene, dezentere Haltung war in den letzten Monaten gestiegen und immer mehr angewachsen, je mehr Zeit er mit Eliza verbrachte. Was Meredith an sich manisch bezeichnete, war es an ihm teilweise tatsächlich. Ceridwen hingegen schien sich gesund mit dem Kind über dessen Fröhlichkeit zu freuen, was aber nichts bedeuten musste, weil Ceridwen schon ein beträchtliches Vampiralter vorweisen konnte – zumindest im Gegensatz zu Meredith oder gar Eli.
"Du glaubst, sie hat eine abnorme Fähigkeit?", fragte Eli dann direkt nach und es brauchte einen Moment bis Meredith bestätigend nickte.
"Möglich wäre es zumindest", Ceridwen klang recht nachdenklich,
"Es gab schon einige Abnormitäten in der Familie und meist hatten sie einen leichten ... nun, sagen wir skurrilen Charakter ..." –
"Mein Kind ist nicht verrückt!" Eli hob die Augenbrauen, seine Mutter so barsch widersprechen zu hören. War doch normalerweise sie es, der als Engel der Familie hätte bezeichnet werden können.
"Nicht zwingend verrückt, Meredith. Schau Dir Eli an, er ist auch nicht verrückt, aber normal ist er deswegen noch lange nicht ..." "Aehm ...", machte Eli und Ceridwen warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.
"Was ich meine, ist, dass in der Familie solche Abnormitäten aufgetreten sind, weil die Charaktere der jeweiligen Familienmitglieder besonders waren. Gut, wir hatten auch Verrückte, Onkel Finn, er war definitiv schwachsinnig, oder auch meine Urgroßmutter. Aber das meine ich nicht. Man muss nicht verrückt sein, um anders als die anderen zu sein. Und dennoch liegt ein gewisser Irrsinn dahinter, der diese Fähigkeiten hervorgebracht hat." Meredith wirkte verstimmt, doch sie verstand. Ebenso wie Eli, der sich jedoch nicht gekränkt fühlte, sondern wusste, dass er leicht irre war – oder zumindest auf andere so wirken konnte, obwohl er sich für sich selbst "normal" fühlte.
Es gab nur eine Lösung für diese Situation und die hieß Gael. Eliza war ohnehin mit ihren drei Jahren soweit, in die Schule des Druiden zu gehen. Drei Jahre war äußerlich wie verstandesmäßig vergleichbar mit einem menschlichen Schulkind und so fiel die Entscheidung nicht schwer, dass Ceridwen und Meredith mit Eliza nach Irland zurückkehrten und das Kind dort zu Gael schickten. Eli blieb in London, um sich um die Firma zu kümmern und auch die Wohnung zu erhalten, da Meredith es sich nehmen lassen wollte mit Eliza und manchmal auch Ceridwen zu den Feiertagen zurückzukehren. Die Verbindung zu Bartholomew, der sich zumindest hin und wieder zu Samhain einfand, konnte und wollte sie einfach nicht abbrechen lassen. Doch war es merklich, dass Meredith überaus glücklich war, wieder in der Heimat zu leben und Eliza nicht nur aus Geschichten von Irland erzählen, sondern ihr ihre Heimat zeigen zu können.
Gael hingegen schien sehr schnell Meredith' Auffassung zu sein und brauchte nur wenige Wochen, um herauszufinden, in welcher Form diese Fähigkeit sich entwickelte. Eliza war nicht nur fähig zeitweilige und dauerhafte Euphorie auszulösen, er konnte sie auch beobachten, wie sie einem anderen Kind, mit dem sie in Streit geraten war, eine böse Psychose einredete - insoweit das in ihrem Alter nun einmal ging. Aber da das "Opfer" ebenso ein Kind war, schien es ihr nicht weiter schwer zu fallen, dieses in Verzweiflung zu stürzen.
Es dauerte Tage, bis das Kind sich wieder erholt hatte. Gael war sicher, dass Eliza es mit der Zeit schaffen würde, solche psychischen Krankheiten auch dauerhaft auszulösen und gab ihr Einzelunterricht, um ihre Fähigkeit bewusster und vor allem verantwortungsvoller einzusetzen. Auch las er in seinen Annalen über abnorme Fähigkeiten und fand vergleichbare, die auch schon in der Familie Lear vorgekommen waren. Jedoch gab es Abweichungen, sodass er der Fähigkeit einen eigenen Namen zusprach, die in Verbindung mit gedanklichen Befehlen und dem Wahnsinn stand: Esprit (das französische Wort für "Geist" im Sinne von "Seele" oder "Psyche"; oft auch ironisierend, brillant-geistreich oder witzig, da Eliza vornehmlich positive Gefühle verstärkt, auch wenn sie es auch anders bewiesen hatte).
Ob Meredith darüber wirklich glücklich war, blieb ungewiss. Sie äußerte sich nie wertend zu dieser Fähigkeit, außer es ging darum, dass Eliza mit ihr etwas Gutes anstellte. Man gewöhnte sich daran, dass Ceridwen sie als skurril bezeichnete und die Gedanken kreisten bald vielmehr darum, dass Eliza auch in ihrem Charakter verschiedene Tendenzen zum Irrsinn zeigte. Glücklicherweise konnte Gael die Familie schnell beruhigen, in dem er ihnen sagte, dass Eliza vielleicht ausgefallener sein würde als andere junge Frauen, aber nie verrückt im eigentlichen Sinne oder gar wahnsinnig, was eher negativ hätte gewertet werden müssen, da es die Gefahr bedeutet hätte, dass Eliza später möglicherweise böse Absichten hatte und anderen schadete.
Sie war ein positives, optimistisches Mädchen, das zu einer hübschen jungen Frau heranwuchs, wissbegierig lernte und leidenschaftlich gerne schwänzte, um ihren eigenen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Sie liebte ihre Mutter, hatte Geheimnisse mit Ceridwen und verliebte sich oft, doch ebenso schnell entliebte sie sich wieder und beschäftigte sich mit anderen Dingen. Es war ein Auf und Ab, aber niemals rutschte sie in melancholische Stimmungen und hatte so einiges mit Eli gemeinsam. Die beiden verstanden sich blendend und waren bald nicht nur durch eine enge Geschwisterliebe miteinander verbunden, sondern durch eine tiefgängige Freundschaft. Es war daher kein Wunder, dass sie nach ihrer Lernzeit nach London zu Eli zog und somit auch Bartholomew öfter sah.
Der älteste der Geschwister hatte einen Narren an Eliza gefressen und auch wenn ihre Beziehung nie so eng war, wie die zwischen Eliza und Eli, verband sie eine tiefe Liebe, die sogar sein Eis brach – immer, wenn er zu Besuch war und sie miteinander sprachen oder auch zusammen spazieren oder ausgingen. Eli wusste, dass ihr großer Bruder sich immer schon eine kleine Schwester gewünscht hatte. Dass er sie jetzt endlich um sich haben durfte und sie beschenken, umsorgen und beschützen konnte, betrachtete Eli mit einer kleinen Hoffnung, dass er vielleicht doch auch noch in anderen Bereichen vernünftig wurde.
Was Bartholomew tat, wusste niemand. Er sprach nicht darüber und Eli fragte nicht nach. Es konnte nichts Gutes sein und er wollte nicht in die Situation kommen, es auch nicht gut heißen zu dürfen und ihm dann den Kontakt mit Eliza hätte untersagen müssen. Niemand hätte ihm diese Entscheidung verziehen und vielleicht hätte sie auch keiner verstanden. Er schwieg und er bereute es alsbald, dass er geschwiegen hatte, doch auch dann konnte er seine Vermutungen nicht beweisen – nicht einmal sich selbst.
Jurij Matwejew & Szymon Kowaljow
Eliza verliebte sich alsbald in London. Doch diesmal war es keine leichte Verliebtheit, sondern wirkliche Liebe, wie sie beteuerte, als sie Eli mit Jurij bekannt machte. Ein Russe, der mit seinem Freund Szymon die Welt erkundete und nun in London war. Er war ein Reisender und Eli hatte die Befürchtung, dass auch sie zu einer solchen wurde, wenn dies eine ernste Sache war. Doch er hatte sich nicht in ihr Leben zu mischen. Jurij tat ihr offensichtlich gut und sowohl er als auch Szymon schienen angenehme Zeitgenossen zu sein. So ließ er sie machen und handelte sich dafür einen Streit mit Bartholomew ein, der weniger ausgeglichen darauf reagieren konnte.
Eifersucht mischte sich bei ihm mit Angst um die Schwester. Vielleicht weil er selbst einst (oder noch immer?) ein großer Schürzenjäger war und seine Schwester vor solchen und wahrscheinlich auch allen anderen Männern schützen wollte. Er benahm sich wie ein Vater, der nicht verstehen kann, dass die kleine Tochter erwachsen geworden war. Eli kam nicht dagegen an. Eliza war 21, sie konnte tun und lassen, was ihr beliebte und Bartholomew hatte damit zu Recht zu kommen, ob er wollte oder nicht. Und er wollte nicht. Die zweite Diskussion, die sich daraus entwickelte, wurde zu einem sehr kurzen Streit, den Eliza überaus rasch damit beendete, dass sie Bartholomew aus der Wohnung schmiss und ihm die Türe vor der Nase zuschlug.
"Komm wieder, wenn Du erwachsen geworden bist ...", rief sie noch durch die Türe und widmete sich dann wieder ihrem Buch, als wäre nichts gewesen. Hätte Eli seinen Bruder nicht besser gekannt, er hätte darüber lachen müssen. Bartholomew nahm so etwas jedoch nicht auf die leichte Schulter und so musste er befürchten, dass Meredith der älteste Sohn zum zweiten Mal verloren ging. Und tatsächlich wart von Bartholomew viele Wochen nichts mehr zu hören, zu lesen oder gar zu sehen. Bald stand Samhain vor der Türe und normalerweise meldete er sich an, um zu wissen, ob Meredith schon angekommen war und wann sie ihn erwartete. Diesmal meldete er sich nicht.
Auch am Samhainabend war nichts von ihm zu sehen und die Familie wartete auf Eliza, die Jurij überraschen und ihn zum Fest hatte einladen und mitbringen wollen. Als es endlich an der Türe klingelte und Eli öffnete, stand jedoch Szymon vor der Tür. Dem besten Freund Jurijs sah man an, dass etwas Schreckliches passiert sein musste und als Meredith das Gesicht des ihr fremden Mannes sah, ließ sie die Blumenvase fallen, die sie gerade zum Tisch hatte tragen wollen. In ihrem Blick spiegelte sich das nackte Entsetzen und auch Ceridwen stützte sich mit den Händen auf den Tisch, als wolle sie sich gerade mit Mühe setzen und wäre in der Bewegung erforen. Alles war erstarrt, nur Eli konnte seine Worte wiederfinden.
"Was ist passiert ...", es war wie ein Flüstern, das nicht einmal wie eine Frage klang und wenn er nie viel Angst in seinem Leben verspürt hatte, fühlte er in diesem Moment nichts anderes mehr ... reine Angst vor der Antwort oder irgendeiner Wahrheit.
"Eliza ... ist sie hier?", Szymon hatte sichtliche Mühe, man sah, dass sein Gesicht Bekanntschaft mit Tränen gemacht hatte, sah Staub an seinem Revier. Seine Frage klang, als müsse er allein ihr eine Mitteilung machen und noch mehr Sorge schwang in seinem Tonfall mit.
"Sie wollte zu Jurij, ihn zu Samhain einladen ...", flüsterte Eli als könne er seine Antwort vor seiner Familie verbergen. Szymons Haltung sackte ein Stück zusammen und Eli trat endlich zur Seite, um ihn einzulassen. Es war wie in Trance, dass er eintrat, verzweifelt und sorgenvoll sah er zu Meredith und Ceridwen. Letztere setzte sich in schlimmer Vorahnung, Meredith Augen schwammen in Tränen.
"Jurij ist ... Jurij ... er wurde ... er ist tot ...", kam es dann aus Szymon hervor, den Eli immer als sehr bodenständig und gefasst wahrgenommen hatte. In diesem Moment schien er alles andere als das zu sein. Meredith unterdrückte einen leisen Aufschrei und Ceridwen stand im nächsten Moment schon neben ihr, um sie zu halten.
"Eliza ...", flüsterte sie tränenerstickt.
"Sie war nicht bei ihm", erst jetzt schien Szymon zu begreifen, welche Hiobsbotschaft er in seiner Aura trug und Meredtih sackten bei seinen Worten die Beine weg, Ceridwen hielt sie und Eli beeilte sich, ihr zu helfen, sich auf einen der Stühle zu setzen. Niemand achtete auf die Scherben auf dem Boden, das Wasser, das sich langsam über den Holzboden verteilte, durch die Ritzen tropfte und den Anemonen schleichend ihr Leben nahm.
"Sie hätte schon längst bei ihm sein müssen ... was ist passiert?", wandte sich Eli wieder an Szymon, der sich ebenfalls gesetzt hatte. Eli schloss endlich die Tür. Hoffnung war in ihm aufgekeimt, dass es Eliza gut ging, dass sie Jurij nicht angetroffen hatte und nach ihm suchte, dass sie deswegen noch nicht da war, vielleicht vor seinem Hotel auf ihn wartete.
Szymon berichtete langsam, aber fortwährend klarer und zusammenhängender, dass er Jurij gesucht hatte. Er hatte ihn nicht in seinem Zimmer angetroffen und der Rezeptionist hätte ihn erst vor Minuten aus dem Haus stürmen sehen. Allein. Szymon war hinterher gelaufen, die schlimme Ahnung mittragend, dass etwas passiert sein musste, wenn Jurij nicht aus dem Haus gegangen, sondern gestürmt war. In jenem Moment, in dem er in die nächste Gasse gebogen war, hatte er mit ansehen müssen, wie ein Vampir Jurij mit seinem Schwert tötete. Er war sofort zu Staub zerfallen und der Vampir verschwunden, bevor Szymon ihn hätte fassen können. Zumindest aber hatte er sein Gesicht gesehen, ihn nicht erkannt, aber sein Gesicht gesehen. Es habe sich in seine Seele eingebrannt und würde auf ewig dort eingebrannt bleiben.
Er war sicher, dass Eliza nicht bei Jurij war, auch anhand der Asche war dies eindeutig, auch wenn er sich sträubte es so auszusprechen. Doch warum das geschehen war, konnte er nicht beantworten. Sie hätten mit niemandem Streit oder Ärger gehabt, sie hätten ihre Einstellung nicht offen mit sich herum getragen. Die einzigen, die wussten, dass sie zu den Liberalen gehörten, waren Eliza, Eli und Bartholomew gewesen.
Bartholomew ... auch wenn Eli es vor seiner Familie nicht auszusprechen wagte oder sich etwas anmerken ließ, war er sicher, ohne den geringsten Beweis dafür zu haben, dass Bartholomew in diese Sache verwickelt war. Doch wenn Szymon sagte, er habe den Vampir nicht erkannt, konnte dieser es nicht gewesen sein. Szymon hatte Elis und Elizas Bruder einmal getroffen. Es war ein verhaltendes Treffen gewesen, aber er hätte ihn wiedererkannt, wäre er es gewesen. Für einen Moment war Eli froh, dass nicht sein Bruder es war, der Jurij getötet hatte, und dennoch war eine Mittäterschaft nur scheinbar besser. Es passte so perfekt zusammen – all das passte perfekt zusammen und er würde mit Szymon darüber sprechen müssen. Jedoch nicht hier.
"Bring mich dorthin ...", sagte er nur und Szymon nickte. Die Frauen sahen sich besorgt an, wirkten, als würden sie mitgehen wollen, doch Eli verhinderte das, in dem er erklärte, dass sie hier bleiben mussten, wenn Eliza nach Hause kam. Bewusst sagte er "wenn" und nicht "falls", obwohl er tief in seinem Inneren wusste, dass sie nicht wiederkommen würde. Was auch immer geschehen war, Eliza war involviert, sie war Opfer irgendeiner Angelegenheit geworden, die mit Bartholomew zu tun hatte, weil dieser den Umgang mit den Liberalen nicht gut geheißen hatte – sowieso schon nicht der Umgang mit irgendwelchen fremden Männern. Doch als er die Tatsache der Kodexeinstellungen obendrein erfuhr, weil Andeutungen im Gespräch gefallen waren, war er überaus in sich gekehrt gewesen. So sehr, dass Eli sich gewünscht hätte, er wäre wutentbrannt in seinem Zorn aufgegangen. Sein Schweigen war viel schlimmer als das gewesen.
Dies alles und die gesamte Vorgeschichte erzählte er Szymon, als dieser ihn zu der Gasse führte, in der es geschehen war. Er hatte die Asche nicht dort liegen lassen. In einem Gefäß hätte er sie und würde sie an einem guten Ort verstreuen. In die Gasse wollte und konnte er in diesem Moment nicht zurück und Eli ging allein. Doch ohne Ergebnis. Es war nichts zu sehen von einem Kampf, außer ein paar Tropfen Blut auf den dicken, schwarzfeuchten Steinen und an der bröckelnden Wand. Für Augenblicke schloss Eli seine Augen, fühlte die Auren in der Nähe, doch Elizas war nicht darunter. Nichts von ihr war hier, nicht einmal der Duft ihres Parfums.
Als Szymon und er gemeinsam ins Hotel traten und den Rezeptionisten befragten, konnte dieser ihnen auch keine weiteren Auskünfte geben. Eine junge Lady mit rotem Haar sei nicht hier gewesen. Auch keine andere Dame, die nicht auch hier wohnte.
Von Eliza fehlte jede Spur und sie kam auch nicht zurück. Nicht heute, nicht morgen und auch an keinem anderen Abend. Szymon versuchte sie zu finden und gleichzeitig den Mörder seines besten Freundes. Eli suchte ebenfalls nach Eliza, doch auch seine Suche blieb erfolglos. Meredith und Ceridwen vergingen vor Sorge und Eli schickte sie nach einigen Tagen zurück nach Irland. Sie mussten sich dort um ihre Angelegenheiten kümmern, sollten nicht hier sein, sollten dort sein, wo sie sich wohl fühlten. Nur mit langen Überredungsversuchen konnten Ceridwen und er Meredith davon überzeugen, dass es so wirklich die beste Lösung war. Er versprach, alles zu versuchen, und er schwor, dass er nicht nach Irland zurückkehren würde, bevor er sie nicht gefunden habe. Notfalls würde er die Firma verkaufen und jeder Spur nachgehen, egal wohin sie ihn führte. Meredith brauchte auch hier einige Stunden bis sie einwilligte, doch war sie auch dankbar, dass Eli sich auf die Suche begeben würde.
New York City
Tatsächlich fanden Szymon und Eli gemeinsam fragmenthafte Spuren je länger sie suchten, nachfragten, Kontakte ausschöpften - vor allem Kontakte von Eli, weil Szymon in London nur Besucher war. Sie fanden über einige Umwege heraus, dass eine Person, die ausgesehen haben soll wie Bartholomew, eine Frau mit dem Aussehen von Eliza am Abend ihres Verschwindens zusammen gesehen worden war. Aber auch, dass der Vampir Kontakt mit dem anderen Vampir hatte, den Szymon gesehen und als Mörder seines besten Freundes identifizieren konnte. Immer deutlicher wurde das Bild und es gab zwei Möglichkeiten.
Entweder starb Jurij durch Bartholomews Einfluss und seine Missgunst bezüglich Eliza in der Verbindung mit einem Liberalen. Oder aber Bartholomew war zufällig genau in den gleichen Reihen wie der Mörder Jurijs und es hatte sich für ihn praktischerweise ohne sein Zutun so ergeben, wie es ihm passte. Etwas anderes kam für Eli nicht in Frage, auch wenn Szymon erklärte, dass all das eine Reihe und Aneinanderkettung von Zufällen gewesen sein könnten, dass Bartholomew möglicherweise überhaupt keine Kontakte zu diesem fremden Vampir hatte, sondern nur zufällig mit ihm zusammen gesehen wurde oder dass er es überhaupt nicht war ... oder oder oder ... Eli wollte sich nichts vormachen.
Natürlich kamen all diese Möglichkeiten in Betracht. Aber als sie erfuhren, dass dieser Fremde einer der Anführer der radikalen Gruppen sein sollte, gab es kaum mehr Zweifel, denn Bartholomew hatte nie einen Hehl daraus gemacht, für wen er war und für was er einstand. Dem entsprechend auch: Durch welche Seite er seinen Lebensunterhalt verdiente. Es bestätigte Elis Vermutungen nur, auch wenn es noch lange keine Beweise waren.
Doch wie passte Eliza in dieses Szenario? Hatte er sie entführt, weil er sie für sich haben wollte und nicht ertragen konnte, wie erwachsen sie mit eigenem Kopf durch die Welt ging? War er dazu fähig? Eli wollte es ihm nicht zutrauen. Er wollte Bartholomew nicht unterstellen, dass er seine eigene Schwester entführte, die er so sehr liebte, wie er Eliza liebte. Seine kleine Schwester ... ihrer beider kleine Schwester. Der Gedanke schmerzte.
Wo sonst sollte sie sein, wenn nicht bei ihm? Niemals hätte sie sich einfach abgesetzt, so ganz ohne Grund, so ganz ohne Nachricht, niemals an Samhain. Das hätte sie Eli nicht angetan und auch der Familie nicht.
Aber in all seinen Überlegungen über die verschiedenen Möglichkeiten und Schlussfolgerungen schloss er eines immer konkret aus: ihren Tod. Sie waren keine Zwillinge, viele Jahre davon entfernt auch nur annähernd welche zu sein, und doch wusste er, dass er sicher sein konnte, zu fühlen, wenn sie gestorben wäre.
Auch Meredith hatte es wiederholt gesagt. Sie hätte gefühlt, wäre es so. Doch ihr konnte man zumindest noch zuschreiben, dass sie sich vor schrecklichen Wahrheiten schützen wollte, nach all den Schicksalsschlägen, die sie hatte erleiden müssen.
"Eine Mutter fühlt sowas ...", hatte sie betont. Sie war nicht die erste Mutter, die das sagte, aber auch nicht die letzte, die Recht behalten sollte.
Niemand wollte es ihr ausreden. Ceridwen sowieso nicht, sie war überzeugt, dass Meredith aus dem Herzen sprach.
Aber auch Eli nicht, weil er selbst das Gefühl hatte, dass sie Recht hatte. Eliza war nicht tot. Nicht, weil sie nicht tot sein durfte, sondern weil sie es nicht war. Syzmon respektierte das und widersprach dem nie. Es sprach nichts für Elizas Tod, warum sollte man den Teufel an die Wand malen, wenn es noch Hoffnung gab ...
Der Weg sollte sie nach New York führen, in die Staaten, im letzten Drittel bzw. gegen Ende des 20. Jahrhunderts, nachdem sie tatsächlich einige Jahre gebraucht hatten, um all ihre Informationen zusammen zu tragen, die sie letztendlich hatten. Mehr war aus London nicht herauszupressen. Hier endete die Spur und sollte erst in Amerika wieder weiterführen können.
Während dieser Zeit hatte Eli tatsächlich die Firma seines Vaters veräußert. Vielmehr die 80% Anteile, die er an
Lear Company besaß, die mittlerweile nicht mehr mit Salz und Eisen handelte, wie vor Jahrhunderten, sondern mit Irischem Whiskey.
Er konnte eine Wertsteigerung herausschlagen und sendete das Geld, bis auf einen Teil für seine Reisen und Suche, nach Irland zu seiner Mutter. Sie würde für die nächsten Jahrzehnte ausgesorgt haben. Vor allem, weil sie sehr sparsam lebte, sah man vom Blut ab, das sie sich mittlerweile von einer vampireigenen Blutbank liefern ließ, weil sie es müde war, Opfer zu suchen. Sie wollte die Menschen nicht erschrecken, nicht betören und auch nicht vergessen lassen. Also verzichtete sie komplett auf diese Art der Ernährungsweise.
Auch löste Eli die Wohnung auf, in die Szymon mit eingezogen war.
Als sie aufbrachen, war die Spur auf einmal heißer, denn je zuvor. Informanten, die sie mittlerweile zur Genüge hatten, brachten nur zwei Tage vor ihrer Abreise die Information, dass die Spur nicht nur vage nach New York City führte, sondern direkt. Sie hätten Kontakt mit einem ortsansässigen Verbündeten aufgenommen und diesen nachforschen lassen.
Man hatte den fremden Vampir, der ihnen mittlerweile als Mr. X bekannt war, und Bartholomew gesehen, wie sie nach New York aufgebrochen - und dort auch angekommen waren. Mit einem riesigen Schrankkoffer. Einem Koffer, den man vor Jahrzehnten zu langen Reisen mitnahm. Heutzutage waren Reisen jedoch nicht mehr so langwierig, man nahm auch keine sperrigen Schrankkoffer mehr mit ...
Eli wurde aufgeregt und es konnte ihm nicht schnell genug gehen, bis ihr Flug nach New York startete, obwohl die Abreise der beiden Vampire mit dem riesigen Gepäckstück schon drei Jahre zurücklag.
"Drei Jahre ...", dachte Eli und schloss die Augen, während die Maschine abhob. Wie konnte eine Spur heiß sein, wenn sie drei Jahre zurück lag? Doch sein Herz klopfte dennoch aufgeregt. Sie waren auf dem richtigen Weg und sie würden weiter suchen und er würde Eliza finden und Szymon diesen X ...
In New York City angekommen begaben sie sich direkt an die Stelle, die ihnen die Informanten genannt hatten. Ein Mann in mittleren Jahren mit Namen Archibald Klok, der im Hamilton Heights Historic District, einem bessern Viertel von Harlem, genannt Sugar Hills, ein Antiquariat und gleichwohl auch eine Detektei führte.
Ein Mensch, ehemaliger Vampirjäger und heute ein Mann, der die liberalen Kodextreuen im Kampf gegen die Radikalen unterstützte, weil er die Gefahr erkannt hatte, die von diesen ausging - von diesen und ihren Ansichten, von ihren Zielen und allem, was sie sonst vertraten. Ein vertrauenswürdiger Mann, wie man schon sehr bald sah - einer, der Ahnung hatte obendrein.
Er hatte Nachforschungen angestellt, hatte die Vampire selbst aus dem Flughafen treten sehen, aber ihre Spur in den Straßen von New York verloren - nahe der Rotlichtviertel der Stadt. Dort habe er versucht, weiterzuforschen und nur eine Informatin gefunden, die bereit war, überhaupt Auskünfte zu geben, wenn das Geld stimmte. Aber sie wollte mit den Beteiligten selbst sprechen und gab sich mit dem Detektiv nicht zufrieden.
Klok warnte die Vampire davor, dass es eine Falle sein könnte, doch dieses Risiko mussten Eli und Szymon eingehen, wenn sie weiterkommen wollten. Schon in der nächsten Nacht begaben sie sich zu der Adresse, die ihnen der Detektiv genannt hatte.
Vorfanden sie eine kranke junge Frau, die von ihren Krankheiten nicht zu wissen schien, in einem Ambiente, wo sie nicht hingehörte und mit einem abgerissenen Äußeren, das nur noch erahnen ließ, wie schön sie eigentlich hätte sein können. Sie war verzweifelt und sie hätte den Vampiren alles erzählt, was sie hören wollten, wenn sie ihr nur irgendwie halfen.
Szymon und Eli sahen sich in einer schwierigen Lage. Sie brauchten diese Informationen, aber sie brauchten sie auch aus zuverlässiger Hand.
"Hör zu, Mädchen, Du bekommst alles, was Du möchtest, wir holen Dich hier auch raus und ermöglichen Dir ein besseres Leben. Aber wir möchten, dass Du uns die Wahrheit sagst. Wenn Du nichts gesehen hast, dann ist das in Ordnung, verstehst Du? Es ist okay, wir helfen Dir dennoch ...", sie schien ihnen nicht zu trauen, sagte nur etwas von
"Ja ja, alles ...", ohne es so zu meinen, und ihre Gedanken waren tief in ihrem drogenberauschten Kopf vergraben, sodass auch Eli nicht an ihre Gedanken herankam. Vielleicht aber lag es auch daran, dass er die Fragmente nicht zusammensetzen konnte, wenngleich Szymon ebenso wenig Erfolg hatte und um einiges älter und konzentrierter war als Eli.
Sie nahmen das Mädchen kurzerhand mit. Der Zuhälter, der sich ihnen in den Weg stellte, war das geringste Problem und in den nächsten Augenblicken schon keines mehr. Wenn die beiden Vampire nicht willkürlich töteten, in dieser Situation hatten sie eine derartige Wut auf diesen Kerl, der "seine Mädchen" wie Abfall behandelte, dass er es schlichtweg nicht anders verdient hatte. Besser fühlten sie sich danach aber nur bedingt.
Die Mädchen, die es neben dem, das sie mitgenommen hatten, noch gab, würden bei anderen Zuhältern Unterschlupf suchen, ob sie wollten oder nicht - denn allein konnten sie nicht überleben.
Es dauerte zwei Wochen bis Loucille von den Drogen runter war und endlich das Vertrauen aufbaute, dass die beiden Männer ihr nichts Böses wollten. Zwei Wochen - für die Vampire eine sehr kurze Zeit für dieses Vertrauen nach all dem, was sie erlebt haben musste. Und für ihre eigene Angelegenheit eine gefühlte Ewigkeit.
In dieser Wartezeit zwischen den Phasen, in denen Loucille schrie und litt, sondern endlich etwas schlief, sprachen sie sehr oft über die Zuhälter, über die Gefahren, die Drogen, die Mädchen und darüber, dass es eigentlich eine Anlaufstelle für Prostituierte geben musste, bei der ihnen nicht gesagt wurde, dass alles, was sie bisher getan hatten, schlecht war. Bei der ihnen auch nicht alles genommen wurde, was ihr Leben ausgemacht hatte, und sie dann versuchen sollten, ein normales aufzubauen.
Wie sollten sie das schaffen? Auch wenn sie entzogen, eine Wohnung bezahlt bekamen, auch wenn man sie in Jobs vermittelte, wie sollten sie mit ihrem Leben für einen Hungerlohn klar kommen, wenn sie wussten, dass sie mit ihrem Körper viel mehr Geld verdienen konnten. Einige von ihnen auch so ihr Geld verdienen wollten. Wieder anschafften. Wieder an die falschen Typen gerieten. Wieder ausgenutzt wurden, bei Drogen landeten, im Suff, in Absteigen, auf schäbigen Rücksitzen, in dreckigen Gassen und stinkenden Hinterhöfen ...
"Ich werde irgendwann einen Nachtclub eröffnen. Jurij und ich wollten das schon lange, wir suchten nur den richtigen Ort. Deswegen sind wir gereist. Ein Nachtclub für Vampire, der für alle Liberalen und jene, die es werden wollen, eine Anlaufstelle sein kann. Und vielleicht jetzt auch für Frauen wie diese, die nicht mehr unter Zuhälterbedinungen arbeiten wollten.
Die vielleicht auch wirklich nur an der Bar arbeiten möchten für einen guten Lohn ... und wenn sie es dann wirklich wollen, vielleicht auch in einer Art Dark-Room-Bereich. Aber nur, wenn sie es freiwillig tun, auf eigene Rechnung, keine Abzüge. Was wir verdienen wird oben drauf geschlagen, nicht von den Mädchen abgezogen. Ein Ort, an dem sie auch wohnen können, wenn sie keine eigene Unterkunft haben ...", es war das erste Mal, dass Szymon von Plänen mit Jurij näheres erzählte. Bisher hatte er das Thema immer nur auf das Nötigste reduziert. Vielleicht, so dachte Eli, war es der erste Schritt, den Tod des besten Freundes zu verarbeiten.
Was er aber zusätzlich aus diesem Gespräch mitnahm, war die Idee. Die Idee von einem Club mit einem wirklich guten Konzept und die nächsten Nächte verbrachten die beiden ihre Zeit damit, neue Ideen zu sammeln und das Konzept auszuarbeiten. Eli machte sich nicht vor, dass Szymon mit ihm diesen Club aufziehen würde. Es war sein Ding. Sein Ding und Jurijs. Er würde sich vielleicht an einem anderen Ort niederlassen, selbst etwas aufziehen, als Zweigstelle sozusagen und genauso erklärte er es auch Szymon, der nichts weiter einwandt und ihn auch nicht einlud, etwas gemeinsam zu machen.
Denn auch wenn sie beide mehrere Jahre gemeinsam auf der Suche waren, auch wenn sie zu Freunden wurden, vielleicht mehr zu Kumpanen, die sich gut verstanden, sie blieben immer in einer gewissen Distanz zueinander. Vielleicht war es die Möglichkeit, dass Elis Bruder mit am Tod von Jurij verantwortlich sein könnte, dass Eliza vielleicht mit ein Grund war, dass alles so passierte. Szymon machte Eli keine Vorwürfe, das wusste er, aber er konnte sich genauso vorstellen, dass er es auch nicht als passend gefunden hätte, wenn Eli an Jurijs Stelle nun mit Szymon durch die Welt zog und deren Träume verwirklichte.
Es fühlte sich nicht richtig an. Sie waren sich schweigend einig und dennoch verstanden sie sich sehr gut. Sie konnten lachen und auch mal vergessen, sie konnten sich über Frauen unterhalten und Späße treiben - vor allem, weil Eli es nicht anders konnte. Und diese kleine Distanz zwischen ihnen störte nach einiger Zeit nicht mehr. Sie vertrauten einander und das war das Wichtigste. Sie hatten ein gemeinsames Ziel und nun auch noch ein zweites, wenngleich beide Ziele in ihrer individuellen Auslegung Unterschiede aufwiesen.
Die Suche galt vor allem für Szymon nach X, für Eli nach Eliza. Die beiden Clubs, so sie denn verwirklicht würden, wären nicht in der gleichen Stadt und auch nicht zusammen geführt. Es waren Unterschiede in diesen gemeinsamen Zielen - und sie waren wesentlich.
Loucille
Nachdem sie sicher sein konnten, dass Loucille wieder klar denken und auch bewusst handeln konnte - unabhängig von irgendwelchen Dingen, die sie an Drogen und Geld von den beiden Vampiren glaubte bekommen zu können, konnten sie sich endlich wieder ihrer Suche widtmen. Es war für beide schon schwer genug gewesen, überhaupt abzuwarten, wo sie doch so nah dran schienen. Sie ließen ihr auch eine ärztliche Versorgung zukommen und auch physisch war sie auf dem Weg der Besserung, auch wenn ihre Seele sicherlich noch einige Zeit brauchte.
Die junge Frau erzählte ihnen, dass der eine Vampir, den sie unter Mr.X "kannten", bei ihrem nun toten Zuhälter einige Mädchen abgekauft hatte. Frauen, die gesund waren und noch nicht so lange dabei. Warum er sie wollte, hatte niemand erfragt. Jeder ging davon aus, dass sie in ihrem Metier bleiben würden. Er würde sie nach Phoenix mitnehmen, hatte er verlautbaren lassen. Dort solle der Zuhälter sich melden, wenn er noch weitere hatte, die in so gutem Zustand waren, wie diese.
"Was ich aber nicht verstanden habe, ist, dass der andere die Irre mitgenommen hat ...", schloss sie ihre Erklärungen beiläufig und Eli hörte auf.
"Irre?" -
"Jaaah", es war gedehnt und man hörte, dass sie nicht recht wusste, wie sie es beschreiben sollte,
"die war einfach nicht ganz dicht. Mirell hieß sie oder Isebell, Isabell oder so. Sie war meist nicht so ganz da "da"", womit sie wohl "nicht zurechnungsfähig" meinte,
"manchmal ist sie fast schon manisch gewesen. Diese Höhen und Tiefen, Stimmungsschwankungen. Manchmal blubberte sie einfach vor sich hin und wenn ich blubbern sag', mein' ich das auch so ... die hat auch behauptet, sie hätte 'nen Vampir getroffen und solchen Kram."
Eli wechselte mit Szymon einen vielsagenden Blick.
"Und die hat er auch mitgekommen?", fragte er dann wieder in Richtung Loucille und sie schüttelte den Kopf, als verstünde er gar nichts.
"Nicht ER, der andere Kerl, sein Kumpel. Aber der meinte irgendwas von wegen, dass man sie doch nicht auf die Straße schicken könne und das sie in eine Psychiatrie gehöre. Mein Boss", wie sie den Zuhälter nannte,
"hat sie dann einfach mitgegeben. Er meinte, dass er sie eh nicht gut verkaufen kann, weil sie so ist, wie sie ist ..."
"Und sie sind mit den Mädels und dieser anderen nach Phoenix?" Sie schüttelte den Kopf.
"Ich bin heimlich hinterher und wollte sie ohne meinen Boss fragen, ob sie mich nicht doch mitnehmen könnten. Da habe ich sie reden hören, dass der eine nun nach Phoenix ging und der andere in New York bleiben soll. Er melde sich dann, wenn was wäre, die Allianz würde ihn schon erwarten ... oder so."
"Die Allianz würde ihn schon erwarten?"
"Na geblickt habe ich das auch nicht, hörte sich irgendwie verschwörerisch an. Area 51 und so, Du verstehst schon ...", nicht ganz, aber so wichtig war es nicht, denn sie hatten genug erfahren und aus dem Mädchen war sicherlich nicht noch mehr herauzuholen.
"Was ist denn jetzt mit meinem Geld?", fragte sie forsch-vorsichtig und Eli tauschte wieder kurz einen Blick mit Szymon, bevor er ihr antwortete.
"Du kriegst, was Du willst, aber ich hab' ein Angebot für Dich. Ich bezahle Dir eine Wohnung, Du holst Deinen Schulabschluss nach und bekommst das von mir finanziert. Ich werde bei Zeiten eine Bar aufmachen, in der Du arbeiten kannst. Du musst Dich nicht verkaufen.
Ich brauche nur jemanden für die Bar, die sich im Gewerbe auskennt. Alle Frauen, die dort als Prostituierte arbeiten können, werden das freiwillig tun. Ich weiß aber noch nicht wo und ich weiß auch nicht wann genau. Aber sicher ist sicher, dass Du nach dem Abschluss nicht allein da stehst. Wie hört sich das an?" Sie beäugte ihn kritisch, auch Szymon, doch da das Angebot singulär an sie gerichtet war, wieder Eli.
"Ich denk' d'rüber nach", sagte sie vorsichtig, ohne zu wissen, ob sie darüber nachdenken durfte. Aber die beiden Vampiren hatten sicher nicht im Sinne, sie in irgendeiner Weise zu etwas zu drängen, auch nicht zu einer Antwort.
"Pass auf, das Angebot steht. Ich leg' Dir hier 500 Dollar hin. Entweder Du nimmst das Angebot an oder Du kannst jederzeit auch einfach gehen. Meine Postfachadresse hast Du in dem Umschlag mit drin, falls Du es Dir anders überlegst.
Da ich noch nicht weiß, wo es mich hinverschlägt, leider keine Telefonnummer. Also rechne mit mindestens ein bis zwei Wochen Wartezeit bis ich Dir antworten kann. Du kannst das Geld behalten, ob Du bleibst oder nicht." Seine Worte besiegelte er mit dem Umschlag, den er ihr auf den Tisch in ihrem Zimmer legte und beide Vampire dann aufstanden und sich mit einem letzten Gruß verabschiedeten.
Daraufhin gingen sie aus der Wohnung, die sich im Keller des Hauses von Archibald Klok befand und die er ihnen für ihren Aufenthalt zur Verfügung gestellt hatte. Sie wollten dafür bezahlen, doch Archibald hatte abgewunken. Wenn überhaupt, dann nur die Nebenkosten, Miete wollte er keine haben. Sie waren sich schnell einig geworden.
Szymon und Eli beratschlagten sich nun in der Küche des Erdgeschosses bei Archibald, der aufmerksam mithörte und sein Wissen über die Stadt miteinbrachte. Es gab mehrere Psychiatrien in der Stadt. Es wäre unmöglich gewesen, alle zu durchforsten. Welchen Grund hätten sie auch haben können, dort in alle Bereiche zu gehen? Zumal sie, wenn Bartholomew dort gewesen wäre, erkannt worden wären. Anrufen hätten sie können, aber es wäre viel zu gefährlich gewesen, nach jemandem zu fragen, der gefangen gehalten wurde.
Eli musste sich auch fragen, ob nicht auch Eliza dort gefangen gehalten wurde. Schließlich war sie auch etwas "skurril", wie Ceridwen immer so schön sagte. Es würde nicht auffallen, wenn sie dort wäre, auch Unwissenden nicht, wenn sie austickte, weil sie raus wollte. Man konnte das alles kaschieren unter dem Deckmantel von Psychosen.
Für Szymon war die Sache sehr klar. Er würde weiter nach Phoenix reisen. Seine und Elis Spuren spalteten sich hier, darüber brauchten sie nicht einmal sprechen. Solange Eli das Gefühl hatte, dass seine Schwester in New York sein konnte oder aber sein Bruder, den er ebenso gerne erwischt hätte, um ihn - freundlich ausgedrückt - zu fragen, was hier vor sich ging, konnte er nicht weg. Und Szymon konnte nicht bleiben, auch wenn die Spuren weiterhin nicht frisch, aber dennoch heiß waren.
So trennten sie sich noch in dieser Nacht und Eli kam nach Szymons Abfahrt zurück in die Wohnung, in der er nun allein wohnte und sah in das Zimmer, in dem Loucille ihren schweren Entzug durchgemacht hatte.
Auf dem Tisch lag ein Zettel. Der Umschlag daneben, geöffnet und leer.
- "Bin kurz ma ein paar bessre Klamotten einkaufn und werd das Anngebot anehmen."
Eli lächelte und steckte den Zettel in seine Westentasche. Wenn alles so funktionierte, wie er sich das vorstellte, würde sie in ein paar Jahren darüber lachen, wie viele Fehler sie in dieser kleinen Notiz gemacht hatte. Er hoffte, sie hielt ihren Neuanfang durch.
Tatsächlich kam sie auch zurück und die nächsten Tage war Eli damit beschäftigt, sie einzurichten und nun doch einen Vertrag mit Archibald Klok aufzusetzen, dass er die Miete für das Mädchen übernahm, bis er seine Existenz aufgebaut hatte. Für Eli war es klar, dass er hier länger bleiben würde und die Suche womöglich auch in New York endete. Er brauchte Zeit und er brauchte Kontakte, um Wege zu finden, alle Psychiatrien zu durchleuchten, ohne, dass er auffiel.
Archibald half ihm, so gut er konnte und Eli fand sehr bald ein Etablissement, in dem er seine Vorstellungen von einem Nachtclub umsetzen konnte. Meredith erklärte er sein Vorhaben nur im Groben, sie brauchte nicht alle Details zu Beginn wissen. Sie hieß gut, dass er Mädchen von der Straße helfen wollte, dass er aber selbst auch einen Dark Room anbieten wollte, verschwieg er ihr wohl wissend, warum. Sie wies die nötigen Summen an, die sie ihm ohnehin ohne sein Wissen zurückgelegt hatte und er konnte mit dem Ausbau des Gebäudes beginnen, das er mit seinem guten, väterlichen Geschäftssinn noch weiter hatte runterhandeln können.
Der Bau dauerte fast ein Jahr, bis alles so war, wie er es haben wollte und die Eröffnung zog sich weiter hin, denn neben dem Clubaufbau, versuchte er weitere Informationen zu bekommen und besagte Kontakte zu knüpfen. Er hatte Zeit, auch wenn es ihn innerlich drängte, Eliza so schnell wie möglich in Sicherheit zu wissen. Andererseits war er auch sicher, dass Bartholomew ihr niemals schaden würde - niemals so, dass es weh tat oder irreversibel gewesen wäre. Darauf musste er vertrauen, sonst wäre er durchgedreht.
Loucille währenddessen schaffte ihren High School Abschluss sogar mit Auszeichnung und Eli verhehlte nicht, wie stolz er auf sie war.
Sie wohnten beide in Kloks Wohnung. Eli schlief auf der Couch, sie konnte alle restlichen Zimmer für sich nutzen. Der Kelte war ohnehin fast nie im Haus außer am Tag.
Es kam auch der Zeitpunkt, an dem er ihr erklären musste, dass er kein Mensch war, weil sie begann, Fragen zu stellen. Es war ein ruhiges Gespräch, an das er die Thematik anknüpfte und mittlerweile hatte Loucille sich auch so sehr auf sich selbst besonnen, dass sie ganz anders mit sich, ihrer Umwelt und ihrem Verständnis für diese umging. Es brauchte ein paar Tage, doch irgendwann schloss sie das Thema ab.
"Sehr cool, ich kenne einen Vampir, wer hätte das gedacht", so ging sie und kümmerte sich um ihre Hausaufgaben, während Eli sich zart an Eliza erinnert fühlte, die eine ebenso schlichte Art hatte, Themen für erledigt zu erklären. Sonst allerdings hatten die beiden überhaupt nichts gemeinsam.
Mal ganz abgesehen davon, dass Loucille ein Mensch war, darüberhinaus dunkelhaarig und blauäugig, war sie alles andere als verrückt. Wenn sie zu Beginn noch etwas einfältig wirkte, was durchaus ihren Krankheiten und auch dem Drogenkonsum und dem darauf folgenden Entzug zuzuschreiben gewesen war, war sie jetzt eine aufgeweckte junge Frau mit 17 Jahren, die mit Begeistertung lernte, was ihr früher verhasst war und eine erstaunliche Intelligenz an den Tag legte, die Eli ihr zuvor niemals zugeschrieben hätte.
Sie entwickelte sich zu einem recht bodenständigen Menschen, der bald eigene Ansichten an den Tag legte und dabei sehr direkt sagen konnte, was sie wollte, was nicht, was sie empfand und was sie nicht gut hieß. Ihrem Einfluss und auch ihrer Erfahrung in so jungen Jahren war es zu verdanken, dass das Mädchenkonzept des Clubs, den Eli nach einer kleinen artverwandten Abwandlung seines ersten Vornamens "CasBar" getauft hatte, ausgeklügelt und sensibel gestaltet werden konnte.
Loucille war eine Waise, jedenfalls hatte sie nie etwas anderes behauptet, auch wenn Eli sicher war, dass das nicht gänzlich der Wahrheit entsprach, und so gab es niemanden, der sie vermisste. Zumindest den letzten Teil glaubte er der hübschen jungen Frau, auch wenn ihm derartige Familienverhältnisse fremd waren. Es war schwierig, ihr Unterschlupf zu gewähren, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, aber glücklicherweise wurden niemals Behörden auf Loucille aufmerksam. Für die Schule hatten sie falsche Papier besorgt und gemeldet wurde sie unter dem Namen Loucille Lewis, was nicht ihrem realen Name entsprach, den Eli aber ebensowenig erfuhr.
Als Loucille mit 18 Jahren ihren Abschluss in der Tasche hatte und auch im Unterricht bei Archibald mit ihren Gedanken gut haushalten konnte, eröffnete das "CasBar" und sie arbeitete im Hintergrund, im Büro und bei der Betreuung der Mädchen, die nach und nach zu ihnen fanden, mit. Erst als sie 21 war, ließ Eli auch zu, dass sie selbst hinter der Theke stehen durfte. Einen Job bei den freien Mädchen bot er ihr nie an und sie fragte auch nicht danach. Die Erfahrungen, die sie hatte machen müssen, waren schlimm genug gewesen, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie diesen Job je wieder machen wollte - auch nicht aus freien Stücken.
Und je weiter sie sich entwickelte, desto mehr konnte man erkennen, welche Fähigkeiten wirklich in ihr steckten. Bald war sie zu seiner rechten Hand geworden, belegte Kurse, die sie in der Buchhaltung schulten, lernte von Eli, was er ihr beizubringen in der Lage war und führte die Geschäfte, wenn er sich um seine Suche kümmerte.
Schon lange waren sie aus Archibalds Wohnung gezogen. Louille bezog eines der Appartementzimmer im "CasBar", die für die Mädchen bereit standen, welche keine eigene Wohnung hatten, und Eli wohnte in seiner Wohnung im obersten Stockwerk des Gebäudes. Mit Archibald hatte sich ein enges Arbeits- und auch Freundschaftsverhältnis aufgebaut. Er war der zentrale Kontakt nach Phoenix, denn seine Informatin Esther MacGuire war dort ansässig und hatte ihrerseits Szymon geholfen, seinen Club aufzuziehen und Kontakte zu knüpfen, sodass nun auch dieser mittlerweile sicher sagen konnte, dass er am richtigen Ort war, denn dieser X hatte hier offensichtlich viele kleine radikale Machenschaften am Laufen, von denen Szymon schon einige vereiteln konnte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Der Kampf in New York war weniger abenteuerlich. Auch wenn Eli wusste, dass Bartholomew tatsächlich in der Stadt war, weil Kontakte ihn gesehen, aber ihn bei der Verfolgung wieder verloren hatten, so war nie ein direktes Zusammentreffen passiert. Zwar fand auch Eli heraus, dass immer wieder junge Frauen verschwanden, was er den radikalen Revolutionären in die Schuhe schieben konnte, aber vereiteln konnte er tatsächlich nur drei Begebenheiten, weil er früh genug Information darüber erhalten hatte.
Archibald war hier eine große Hilfe und später auch seine Enkelin, die bei ihm wohnte. Seine Frau war gestorben, er war alt geworden und seine Tochter mit ihrem Mann in einer Sekte abhanden gekommen, in der sie blieb, nachdem ihr Mann ins Gefängnis kam. Die kleine Ree war bei Archibald aufgewachsen, wurde alsbald zu einer jungen hübschen Frau, die ebenso Aufträge von Eli ausführte, die Archibald ihr weiterleitete.
Thelma-Louise
Eines Abends kam eine junge Frau in den Club und verlangte Eli zu sprechen. Loucille brachte sie in sein Büro und Eli glaubte erst, eine neue Bewerberin vor sich stehen zu haben. Sie sah allerdings nicht aus, als käme sie aus den zwielichtigen Vierteln, das Aussehen für eine hübsche Thekenkraft hatte sie dennoch, doch es kam anders.
Die junge Frau stellte sich vor als Thelma-Louise, deren Namen er überaus witzigen und filmbegeisterten Eltern zuschrieb. Archibald Klok hatte sie zu Eli geschickt und sie war sofort zu diesem weitergefahren. Wie sie erklärte, suche sie ihren besten Freund Cedrik und hatte die Vermutung, dass dieser in einer Psychiatrie gefangen gehalten wurde.
Cedrik sei ein Vampir, den sie schon im Kindesalter kennengelernt hatte. Er hatte besondere Fähigkeiten, wie sie wusste. Fähigkeiten, die andere Vampire in der Regel nicht hatten, davon gleich zwei. Wohl eine Familienfähigkeit und die Abart einer anderen. Sofort assoziierte Eli dies mit seiner Schwester, bei der es ebenso war.
Er hatte ihr erzählt, dass seine Familie bei dem Versuch ums Leben gekommen war, ihn vor radikalen Vampiren zu beschützen. Auch hatte er ihr erklärt, welcher Krieg um den Kodex ausgebrochen war und dass seine Familie in San Francisco aufgedeckt hatte, dass dort Vampire mit besonderen Fähigkeiten von den radikalen Revolutionären verschleppt wurden. Was sie mit ihnen taten, war nicht klar, aber die Familie war Anhänger der Liberalen gewesen und hatten den Kampf gegen die Radikalen verloren.
Eli war betroffen. So hätte es auch seiner Familie gehen können, so war es Jurij gegangen, auch er war mittendrin, wie auch Szymon mittendrin war in Machenschaften, die sie offensichtlich alle nicht überblicken konnten.
Eli hatte keinen Zweifel daran, dass Thelma die Wahrheit sprach und er hatte noch weniger Zweifel daran, dass genau das auch mit Eliza passiert sein musste. Sie wurde von den Radikalen aufgrund ihrer Fähigkeiten verschleppt. Das musste der wirkliche Grund sein, warum Bartholomew sie entführt hatte. Für Eli passte alles zusammen. Nur das Warum erschloss sich ihm nicht gänzlich. Die Vermutung aber lief sowohl von ihm, als auch von Thelma darauf hinaus, dass sich die Radikalen diese Fähigkeiten auf irgendeine Weise zueigen machen wollten. Wahrscheinlich dadurch, dass sie versuchten, die Vampire auf ihre Seite zu bringen und sie so lange einer Manipulation aussetzten, bis diese sich fügten und vielleicht wirktlich glaubten, dass sie ihre eigene Meinung vertraten, wenn sie für die Radikalen dienten, arbeiteten, was auch immer.
Einzig Elizas Sturkopf war das, was Eli am meisten Hoffnung und am meisten Sorgen machte. Wenn es wirklich so war, dann würden sich die Radikalen die hübschen Eckzähne an seiner Schwester ausbeißen. Sie war deart manipulations-un-anfällig, dass er nicht glaubte, sie könnten eine Chance in diese Richtung haben. Das war seine Hoffnung. Die Sorge allerdings überwog, denn zu was waren sie fähig, wenn sie merkten, dass Eliza sich ihrem Willen nicht fügte? Er wollte es sich nicht ausmalen ...
Thelma-Louise hingegen hatte einen Plan. Einen Plan, den sie so ehrgeizig umsetzen wollte, dass Eli alles hätte tun können, er hätte sie davon nicht abhalten können. Sie war lediglich zu ihm gekommen, weil ihre Nachforschungen sie zu Archibald Klok geführt hatten und dieser sie nun weiterschickte zu Eli, weil Eli eine ähnliche Geschichte zu erzählten hatte. Sie hatten das gleiche Ziel und sie brauchte einen Verbündeten, der wusste, wo sie war, was sie tat und warum. Mit dem sie sich in Verbindung setzen konnte auf irgendeine Weise, wenn sie abtauchte ...
Abtauchte in die Psychiatrie als Spitzel, als Spion, Agent, Undercover ... sie wollte herausfinden, was dort passierte und Cedrik dort rausholen.
"Dort?", es war die ganze Zeit von unbestimmten Psychiatrien die Rede und von diesen wusste auch Eli seit einigen Jahren. Doch in ihrer Stimme schwang noch etwas ganz anderes mit.
"Dort, auf dem Todt Hill, dort ist ihr Standpunkt ...", sie wahrscheinlich hatte lange bohren, suchen und sich Risiken aussetzen müssen, um genau das herauszufinden, aber sie war sich sicher - auch wenn sie aussparte, woher sie es wusste. Es war das erste Mal seit damals, dass Eli endlich wieder eine genaue Richtung hatte, in die er weitersuchen musste. Und nun war er nicht mehr gänzlich allein.
"Todt Hill ...", genau die Psychiatrie, die er immer im Blick gehabt hatte, weil sie eine Abteilung aufwies, in der Menschen behandelt wurden, die "glaubten", einen Vampir gesehen zu haben. Archibald hatte auch schon jemanden dorthin geschickt als Besucher irgendeiner Person, die dort eingeliefert worden war. Aber es gab nichts weiter dort als Menschen, die sich einbildeten, von Vampiren zu wissen und welche, die es wirklich wussten, aber als verrückt abgestempelt wurden. Eine Tatsache, gegen die ebenso vorgegangen werden sollte, wie gegen andere Ungerechtigkeiten, doch bislang hatten sie keine Möglichkeiten gehabt, keine Wege gefunden und sich auch vielmehr auf ihre eigene Suche konzentriert.
"Ich weiß, dass dort nur Menschen sind, aber vielleicht gelange ich ja, wenn ich selbst als verrückt dort eingeliefert werde, irgendwie in Bereiche, in die Besucher nicht vordringen", hatte Thelma-Louise dann erklärt und Eli hatte genickt. Thelma musste sich also einliefern lassen, dass sie dieses schauspielerische Talent besaß, sprach er ihr nicht ab, denn sie hatte etwas leicht abhanden Gekommenes an sich. Sie war nicht verrückt, irre oder gar wahnsinnig, aber sie war etwas anders, als andere Personen. Man nahm ihr sicherlich ab, dass sie nicht ganz bei Sinnen war, wenn sie es provozierte.
"Ich habe nur mit Verrückten zu tun", lachte Eli leise auf, trotz der ernsten Angelegenheit,
"jede Nacht sehe ich einen im Spiegel, zwei meiner Verwandten sind schwachsinnig gewesen und meine Schwester ist skurril, wenn ich die Worte meiner Urgroßmutter verwenden darf ...", nun lachte auch Thelma und er konnte etwas Leichtigkeit in die Ernsthaftigkeit bringen, die sie beide umgab.
Thelma und Eli verbrachten einige Nächte damit, Thelmas Plan auszufeilen. Er wurde so auch zu Elis Plan. Sie würde sich einschleusen lassen, Loucille würde sie als ihre Schwester ausgeben und sie einliefern lassen und sie einmal im Monat besuchen. Sie würde behaupten, dass sie ihre Schwester nicht leiden konnte, aber diese Anstandsbesuche sich nun einmal gehörten. So konnten sie Informationen austauschen und würden merken, wenn irgendwann etwas nicht mehr stimmte.
Eli selbst konnte dort nicht auftauchen, und er erklärte Thelma auch, dass es ihm nicht möglich war, weil die Wahrscheinlichkeit bei 99% lag, dass sein Bruder selbst dort involviert war. Ein Prozent wollte er ihn unschuldig sehen, diese kleine, winzig kleine Hoffnung wollte er niemals aufgeben.
Eli gab Thelma ein Bild von Bartholomew. Die Photographie eines Gemäldes, das in seinem Elternhaus hing. Meredith hatte es ihm zugeschickt und er hatte es vervielfältigt. Die Suche war so viel einfacher gewesen, als hätte er ihn nur beschreiben können. Szymon hatte von X ein Phantombild anfertigen lassen, da es von diesem kein Gemälde gab, das man hätte abphotographieren können. Auch dieses gab er Thelma, die sich beides einige Stunden anschauen wollte, um sich die Gesichter einzuprägen.
Eli gab nun noch falsche Papiere bei Archibald in Auftrag, die Thelma-Louise als Verwandte von Loucille ausgaben und fand, dass ihre Namen diese Verwandtschaft schon recht plausibel machten. Die Eltern schienen etwas eigenartig gewesen zu sein, wenn sie ein Mädchen Louise und das andere Loucille nannten, während sie selbst Lewis hießen. Verrücktheit war vererbbar, das wusste er besser als viele anderen (es sei nur beiläufig darauf hingewiesen, dass er Eli, seine Schwester Eliza, sein Vater Eliah und dann alle zusammen auch noch harmonisch Lear hießen). Und wenn Loucille auch ein paar Anwandlungen zeigte, seltsam zu sein, dann rundete das das Bild der irren Familie perfekt ab.
Und tatsächlich wurde sie wohlwollend im "Abraham Brill House", der Psychiatrie auf dem Todt Hill auf Staten Island aufgenommen. Man beruhigte Loucille, als sie sagte, sie käme sich ja so schlecht vor, dass sie ihre Schwester hier abliefern müsse, aber sie wisse nicht mehr weiter und wenn sie ehrlich sei, hätte sie Thelma nie richtig leiden können. Man erklärte sogar, dass es nicht schlimm sei, wenn sie sie nicht besuchen käme, aber Loucille bestand darauf, dass Anstand sich gehöre und sie ihre Pflicht einmal monatlich wahrnehmen würde. Wenn das der Aufnahmeleiterin nicht gespasst hatte, so hatte sie es nicht gezeigt. Ein waghalsiges Unternehmen, von dem bis heute nicht klar war, wie es ausgehen würde ... Thelma befindet sich nämlich noch immer dort. Der dritte Besuch stand kurz vor der Türe und bisher gab es keine Neuigkeiten in die richtige Richtung - aber auch keine in die falsche.
Konsortium vs. Syndikat
Dieser dritte Monat nach diesem aufschlussreichen Ereignis mit Thelma-Louise und der Mitteilung, die er deswegen an Szymon machte, meldete sich eben jener bei ihm mit Neuigkeiten, die ihn überaus beunruhigten. Sie beide.
Szymon hatte Kontakte zu einem Venedic in Arizona geknüpft und erfahren, dass die radikalen Revolutionäre viel größer, breiter und tiefer organisiert waren, als sie es je angenommen hatten. Das Syndikat nannte es sich und diese erklärten alle organisiserten Liberalen zum Konsortium - der Name, den auch Szymon und seine neuen Verbündeten angenommen hatte, der Name, den auch Eli sofort annahm. Man nahm nicht viel von den Radikalen, diesem Syndikat, aber wenn sie ihren Feind namentlich schon benannt hatten, sollten sie hinter diesem Begriff keine individuelle Leere mehr vorfinden, sondern eine einheitliche Formation.
Die Machenschaften erstreckten sich über die ganze Welt. Von Menschenhandel, aber auch Vampirlaboratorien war die Rede. Von grausamer Folterung, weiteren Entführungen, Manipulationen, psychischen Grausamkeiten ... es gab eine Spitze, auch wenn sie sie nicht lokalisieren konnten. Aber Szymon war wie Eli selbst noch nicht "entdeckt". Das hätten sie erfahren. Die Verbündeten aus Venedic allerdings schon.
Das alles hatten eben jene herausgefunden, als sie die Person, die sie von den Radikalen bekämpft hatten, getötet hatten. Es war Zufall und wohl durch eine Zivilistin passiert, aber es war passiert und offenbarte ein ganzes System hinter dieser Person, Giulia mit Namen. Es klang nach Zellen, nach organisierter Berechnung, dass einzelne Bereiche von diesem Syndikat kontrolliert wurden, um sie alle einzeln von einander getrennt und in Schach zu halten und sie an einer Verbrüderung zu hindern.
Diese Verbrüderung aber musste nun geschehen. Sie mussten sich treffen und ihr weiteres Vorgehen besprechen, planen, sich absprechen, noch mehr finden, wie die Familie in San Francisco, aber welche, die die noch nicht vernichtet waren. Verbündete überall auf der Welt und dafür brauchten sie Kontakte überall hin in die Welt. Szymon und Eli konnten in London und auch Teile von Irland und Russland rekrutieren, dieser Cogta Vusin und sein Freund Dante Scirea schienen in Italien und auch Asien Kontakte zu haben. Sie mussten sich besprechen, sich treffen ... der Termin würde in einer Woche sein. In New York City.