Lebenslauf
Übersicht:
2.Hälfte 15.Jh.: Menschliche Geburt nahe Florenz.
Beginn 16.Jh.: Giulios Blutstaufe und erste Vampirjahre im Florenz der Renaissance.
16.Jh.: Reisen durch Rom und Mailand, längerer Aufenthalt in Venedig.
17.Jh.: Reise nach Frankreich, Aufenthalt im Paris Ludwigs XIV., Vollzug der Blutstaufe an Laurent de Richeville.
18.Jh.: Aufenthalt beim Rat der Alten in Großbritannien und Rückkehr nach Frankreich.
19.Jh.: Aufenthalt in Wien, Freundschaft mit radikalem Vampir und Zusammenstoß mit Ratsmitgliedern.
Anfang 20.Jh.: Reisen durch Osteuropa auf der Suche nach Vampirlegenden und immer weiter nach Osten.
20.Jh.: Reisen durch Asien, Verstecken in verschiedenen Berghöhlen und Klöstern in Tibet, Mongolei, China, ständige Flucht vor dem Krieg.
Beginn 21.Jh.: Aus Hongkong Überfahrt nach Amerika, Aufenthalt in Kalifornien, endlich Phoenix.
Im Florenz der Renaissance (Menschliche Geburt-1520)
Mahat wuchs als Tochter eines kleinen italienischen Landadeligen nahe bei Florenz auf. Im 15. Jahrhundert war Italien in unzählige Stadtstaaten zersplittert und Florenz dank der Medici eine der schönsten und reichsten unter ihnen, ein würdiger Ort für die Wiedergeburt der antiken Künste. Man las die Werke der alten Griechen und Römer, man malte so, wie das Auge sah, christliche neben heidnischen Motiven, Jesus neben Venus und Dionysos.
Bereits als Kind war die Adelstochter belesen und stellte ihren Lehrern tausend Fragen. Zwar sprach sie das damals junge Italienisch, die Sprache Dantes und Boccaccios, verschlang aber antike Klassiker im lateinischen Original und zeigte Interesse an der Philosophie, aus der sie bald Platon als ihren Liebling erkor. Ihr Vater und ihre Brüder kümmerten sich wenig um ihr Treiben, solange sie gute Manieren und Respekt gegenüber Männern zeigte, aber die Mutter, die ihr das rote Haar und die blasse Haut zusammen mit ihrem keltischen Blut vererbt hatte, ermunterte die Tochter in ihren Studien und redete gerne mit ihr, wenn der Hauslehrer nicht zur Verfügung stand. Mit der Zeit wurde die Jüngere allerdings unschlagbar in der Kunst der Rhetorik. Bald reichten die Bibliothek und die paar Stunden mit dem Lehrer nicht mehr aus, um ihren Wissensdurst zu stillen. Sie träumte von den großen Städten, in denen sich Maler, Dichter, Gelehrte und Mäzene versammelten, um zu Wissenschaften und Künsten beizutragen. In diesen Tagträumen glich sie eher einem Jungen als einem Mädchen und tatsächlich entstanden daraus lange Gespräche mit ihren Brüdern.
Endlich, wohl im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren, bemerkte der Vater, dass sie sich doch ganz gut entwickelt hätte – ein widerwilliges Zugeständnis an ihren Ruf, unter der Dienerschaft und in den umliegenden Dörfern galt sie als Schönheit – und beschloss, sie in die urbane Gesellschaft einzuführen. Auf der nächsten Geschäftsreise nach Florenz wählte er nicht nur seinen Ältesten als Begleitung, sondern auch sie.
Die junge Adelige, aus dem ruhigen Landgut direkt in die hektische Betriebsamkeit des wirtschaftlich und kulturell florierenden Florenz geworfen, lebte bereits bei der Ankunft sichtbar auf, verschlang die wunderbare Eleganz der Menschen und die Architektur mit ihren Säulengängen, endlosen Verzierungen und Details und wäre am liebsten überall zugleich gewesen. Am Abend gab ein reicher Kaufmann und Familienfreund ein Bankett in seinem Palazzo, zu dem sie vor Aufregung bebend ihr bestes Kleid anlegte und das rote Haar zu einer kunstvollen Lockenfrisur aufsteckte. Dort traf sie einen Mann, der auf strenge, dunkle Art und Weise gutaussehend war und bald ihre Schönheit und Klugheit pries. In dieser Nacht fühlte sich die Adelstochter vom Lande wie die Signora Medici selbst.
Dieses Gefühl riss nicht ab: In den nächsten Tagen freundete sie sich mit dem Mann an, der sich als der stadtbekannte Maler und Sonderling Giulio Savone herausstellte. Jede Nacht mischte er sich in prächtigster Kleidung unter die hohe Gesellschaft, obwohl er seit Jahren keine Aufträge gehabt hatte. Aber der Klatsch wanderte zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Er zeigte ihr seine Bilder und was sie sah, faszinierte sie wie nichts zuvor. Sein Stil war starr und kalt, kannte weder Perspektive noch Farbabstufungen, besaß also große Ähnlichkeit mit ägyptischen Tempelfresken. Mit der Detailverliebtheit und den leuchtenden Temperafarben auf diesen alten Stil zurückzugreifen! Kurz gesagt, beide liebten Kunst, Kultur, Schönheit und waren absolut fasziniert voneinander.
Sie wollte Florenz um keinen Preis verlassen. Ihr Vater bekam einen Wutanfall – dieser Savone stammte aus dem niederen Bürgertum, stand in schlechtem Ruf und hatte nicht einmal als Maler Erfolg! – und hätte sie am liebsten an den Haaren zurück nach Hause geschleift. Letztendlich zog sie in Giulios Villa und dessen Hartnäckigkeit (oder Starrsinn) erledigte den Rest. Sie sah ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt: Leben im kulturellen Reichtum, umgeben von Gelehrten und Künstlern. Für Giulio war sie Muse, Geliebte und Diskussionspartnerin zugleich.
Mit der Zeit verwandelte sich der süße Traum in saure Wirklichkeit: In seiner Villa redeten sie sich heiß, jagten einander in leidenschaftlichen Streitgesprächen durch alle Räume und reizten einander bald auch auf Banketten mit spitzen Bemerkungen, die beim Rest der Gesellschaft für endlose Erheiterung sorgten. Seine ungewöhnlichen Gewohnheiten gaben ihr Rätsel auf: Er erhob sich mit Sonnenuntergang und wachte bis in die Morgenstunden, er ruhte an einem ihr unbekannten Ort, er schenkte ihr teure Kleider und Schmuck und Bücher, er malte seine Bilder mit erschreckender Geschwindigkeit, obwohl er nie Kunden empfing, und er küsste und liebkoste sie, aber er nahm sie nie in sein Bett.
Zwei Jahre lang sammelte sich Unzufriedenheit in ihrem Herzen, bis der Geduldsfaden riss. In einer Nacht warf sie ihm alles an den Kopf, das sie störte: seine Geheimniskrämerei, seine starren Meinungen, sein rechthaberisches Verhalten, seine Sturheit, die keinen Raum für Gleichgestellte zuließ.
„Wohin du auch kommst, dort musst du herrschen!“, zischte sie und drohte, ihn zu verlassen.
„Ich will nicht nur ein hübsches Gesicht in deiner Sammlung sein!“
Er lachte nur. Auf einmal stand er hinter ihr, immer noch leise lachend, und schlang ihr die Arme um den Hals, als wären ihre empörten Schreie nur ein Zwitschern in seinen Ohren und ihr Zappeln und Treten nur Unartigkeiten eines Kindes.
„Du bist mein auf ewig.“ Ein scharfer Schmerz und ein reißendes Ziehen raubten ihr den Atem, ein Strom an Bildern blendete ihre Augen und bebende Erregung lähmte ihren Körper. Etwas, das die Welt ausdehnte und erweiterte, floss durch sie, durch Giulio, wieder durch sie. Die Zeit verlor alle Bedeutung. Sie wusste nicht, ob er sie trank oder sie ihn oder beides gleichzeitig. Einzelne Eindrücke verschwammen und verschmolzen miteinander und zuletzt zerriss eine allmächtige Explosion ihr Bewusstsein.
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„Steh auf, Mahat. Mahat. Du bist als Mensch gestorben und als Tote wiedergeboren. Dein Name ist Mahat. Jetzt öffne die Augen und steh auf.“ Seine Stimme war eine Urgewalt, der sie nicht widerstehen konnte. Vor ihren Augen eröffnete sich ein Feuerwerk an Details. Die unzähligen Linien und Kanten im Stein, die knisternden Flammen und ihr Tanz an der Wand, kleinste Fältchen in dem Gesicht, das sich über sie beugte. Ihre Lippen formten seinen Namen einmal, zweimal.
„Giulio, was hast du getan?“
Er wartete mit undurchdringlicher Miene und rührte keinen Finger während sie sich aufrappelte und unter der Flut der Sinneseindrücke wankte.
„Ich habe dich in Blut getauft. Wir sind Bluttrinker, Wesen der Nacht, Totengötter. Komm, Mahat, ich zeige dir, was ich vor den Menschen geheim halte.“
Sie verstand nicht, weder die Erklärung noch den Namen, mit dem er sie ansprach, aber die Verlockung seiner Geheimnisse war groß. Nebel trübte ihre Gedanken und ein seltsames Pochen verstopfte ihre Ohren, aber sie nahm seine Hand an. Mit dem festen Griff einer Marmorstatue zog er sie eine schmale Treppen hinab, an unzähligen zuckenden Fackeln vorbei, tief unter die Stadt. Die Fackeln erleuchteten unzählige Bilder in denselben schlichten Farben, mit denen die glatten Wände bedeckt waren. Sie reihten sich aneinander wie eine fortlaufende Geschichte, aber Giulio zog sie so schnell daran vorbei, dass nur eine Flut aus Farben und Formen in ihrem Gedächtnis zurückblieb.
Sie standen vor einer schweren Steintür, die er durch einen versteckten Mechanismus öffnete.
„Hier beginnt der Tempel“, murmelte er geheimnisvoll. Mahat hielt den Atem an. Zwar glaubte sie an keinen der Götter, die sie in ihren Büchern kennengelernt hatte, aber sie bewunderte die Schönheit ihrer Darstellungen und Bildnisse. Wie bei ihrer ersten Begegnung nahm er ihren Arm und führte sie durch einen breiten Korridor. In regelmäßigen Abständen passierten sie Säulen, die mit farbigen Reliefs bedeckt waren, und an den Wänden erkannte sie weitere Malereien in Giulios strengen Stil. All das war erleuchtet von Fackeln, obwohl die Decke sich über den flackernden Lichtkreis erhob.
„Das ist der Prozessionsweg, der für Rituale und an Feiertagen benutzt wird“, erklärte Giulios Stimme, die wie eine geisterhafte Allgegenwart von den Wänden widerhallt. Mahat sagte nichts dazu. Eine weitere Tür öffnete sich in einen etwa quadratischen Raum, die Wände ebenfalls über und über mit leuchtenden Malereien bedeckt. Nur vier Fackeln tauchten den Raum in warmes Dämmerlicht. In der Mitte des Raumes erhob sich ein schmuckloser Steinquader. Hinter dessen Tür herrschte Dunkelheit, die kein Mensch durchschauen konnte, aber den beiden Bluttrinkern war das Licht der Fackeln draußen genug. Kaum sichtbare Reflexe tanzten auf einem Thron aus reinem Gold, dessen Lehne und Armstützen mit Rubinen besetzt war. Das spärliche Licht zuckte und tanzte auf ihrer Oberfläche, als wären sie erstarrte Flüssigkeit: Blut. Die Bilder an den Wänden waren schwer zu erkennen, zeigten aber immer wieder ein Motiv: ein Gestalt mit weißer Haut, die sich über die Kehlen rothäutiger Menschen beugte.
„Das Heiligtum ist der Wohnsitz des Gottes“, erklärte Giulio zurück im breiten Säulengang. Endlich ließ er ihre Hand los und Mahat sackte gegen eine der Säulen. Sie war müde, so müde! Aber sie bemühte sich, seinen Worten zu folgen.
„Hast du über das Weltbild der alten Ägypter gelesen? Ihr Kosmos besteht aus dem ewigen Kampf zwischen Maat, Ordnung und Gesetz, und Isfet, Chaos und Zerstörung. Für oder gegen diese Prinzipien kämpfen die Götter und die Rolle der Menschen ist es, sie durch Anbetung und Opfer für den Kampf zu stärken. Der Tempel ist das Haus des Gottes, dem sie dienen. Die Priester kleiden ihn und bringen ihm Nahrung ins Heiligtum! An Feiertagen vollziehen sie Rituale und ehren das, was der Gott verkörpert, um ihn durch ihre Handlungen zu stärken. Die Ägypter glaubten, dass jedem Symbol die Kraft des wirklichen Dings innewohnte.“
„Was hat das mit uns zu tun?“, unterbrach Mahat, ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Giulio lächelte.
„Du enttäuschst mich, meine Schöne! Wir, die wir um ein Vielfaches stärker, schneller und geschickter als die Menschen sind, gleichen wir nicht Göttern, die auf Erden wandeln? Indem wir ihr Blut trinken, entscheiden wir über Leben und Tod. Auch wir tragen zur Maat bei. Ich habe die Macht, über sie zu richten, ich herrsche als Osiris über Tod und Jenseits. Lange habe ich gesucht, bis ich dich fand: eine Gefährtin, die würdig ist, an meiner Seite zu herrschen und unserer Priesterschaft vorzustehen.“
„Priesterschaft?“, fragte Mahat. Waren sie nicht alleine in diesen unterirdischen Kammern?
„Sie sind wie wir, aber sie haben nicht die geistige und körperliche Stärke, über andere zu richten. Sie dienen als Helfer und Priester, die uns kleiden, uns nähren und die Rituale vollziehen. Dadurch geben sie uns ihre Kraft.“ Er hielt inne und berührte ihre nackte Schulter.
„Aber ich sehe deine Erschöpfung. Dein Körper ist noch nicht lange der eines Gottes. Sag etwas, irgendetwas!“
„Es tut mir leid, aber ich kann das nicht glauben.“ Sie stockte.
„Du hast mich zum Bluttrinker gemacht, um mich an dich zu binden.“ Auf einmal war das Rätsel entwirrt und die Verhältnisse glasklar zu sehen. Für ihn war sie ein Werkzeug, eine Erweiterung seines irrsinnigen Kultes, nicht mehr. Ihre Empörung kannte keine Grenzen. Sie drehte sich um und floh in die Villa hinauf.
Besser gesagt, sie versuchte, denn ihre Beine bewegten sich nicht von der Stelle, als wären sie am Boden festgeklebt. Ihr glühender Blick traf ihn hart.
„Sei nicht dumm, Mahat! Du bist jung und schwach, du brauchst ein Opfer. Ich werde dich lehren, was du wissen musst.“ Sie starrte ihn an, musste aber die Logik seiner Worte zugeben. Ihr Zustand reduzierte sie auf die Hilflosigkeit eines Neugeborenen. Deshalb, nur deshalb übergab sie sich seiner Führung.
Die frühen Morgenstunden trieben einen hübschen Jüngling in die Arme des Totengottes. Sein Blut schmeckte vage nach Alkohol, aber süß, so überirdisch süß! Mahat trank bis auf den letzten Tropfen und verlangte nach mehr. Zwei unglückliche Dienstboten später ließ das Pochen hinter ihren Schläfen nach und ihr Körper fühlte sich so stark und lebendig an wie noch nie. Die Wirkung des Menschenblutes erwärmte und stärkte sie für kurze Zeit, am Anfang eine Nacht, später würde sie auch zwei oder drei überleben, obwohl ungeduldig und unwillig.
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Die nächsten Jahre und Jahrzehnte gehören dem ägyptischen Totenkult, jeweils eine Opferung in der ersten Stunde nach Sonnenuntergang und nächtelange Riten an den alten Feiertagen. Mahat lernte die „Priesterschaft“ kennen, eine Bande junger Bluttrinker, die er aus den Armenvierteln oder von der Straße aufgelesen hatte und die ihn bedingungslos verehrten. Giulio verwendete viel Zeit auf Mahats Ausbildung – sowohl Bluttrinkerin als auch göttliche Gefährtin sollte sie sein. Jede Nacht suchten sie zusammen Opfer, jede Nacht brachte neue Erkenntnisse über körperliche Kräfte und Fähigkeiten. Wenn sie einen Menschen beobachtete und mit ihrem Geist lauschte, konnte sie seine Gedanken hören. Zuerst waren sie nur ein Wispern, später so laut als hätte er wirklich gesprochen. Mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten wuchsen die Gedanken zu einer ständigen Gegenwart in ihrem Hinterkopf, wie das Plätschern eines Bächleins, und sie musste nur ihre Aufmerksamkeit auf ein Gesicht, eine Stimme richten, um die Worte zu verstehen. Eines Nachts beobachtete ein Mensch ihr Festmahl in der Dunkelheit und sie streckte geistige Hände aus und hieß ihn vergessen, was er gesehen hatte, aber Giulio trank ihn trotzdem leer. Er brachte Tod, wohin er auch ging, aber Mahat verabscheute seine Rechtfertigung, in der er sich mit Osiris gleichstellte, und kritisierte ihn bei jeder Gelegenheit. Im Gegenzug verfolgte er jedes Opfer, das sie verschonte, und vollzog, was sie unterlassen hatte. Mahat gab die Niederlage zu, wenn auch zähneknirschend.
Mehr Erfolge verzeichnete sie dagegen auf dem Schlachtfeld des Glaubens.
„Wie kannst du dich für die Verkörperung eines Gottes halten? Hast du ihn jemals gesehen? Bist du ihm begegnet oder hat er Worte mit deiner Zunge gesprochen? Ich sage dir, Giulio“, er mochte es nicht, wenn sie seinen menschlichen Namen benutzte,
„braucht der Mensch uns? Hat er nicht die Pest, die Lepra und viele andere grausige Krankheiten, mordet er nicht seinen Nächsten für Geld, Macht oder auch nur ein hübsches Mädchen? Warum sollten ausgerechnet wir richten? Wir lesen seine Gedanken, ja, aber sein Sonnenlicht ist unser Tod und sein Blut unser Lebenselixier. Wir brauchen den Menschen, aber braucht der Mensch uns?“ Giulio presste die Lippen zusammen und wandte sich ab, denn gegen ihre wortgewandten Reden konnte er immer nur dieselben Einwände wiederholen. Sein Schöpfer hatte ihm nicht nur ein riesiges Vermögen, sondern auch den Glauben an diese Weltordnung vererbt, die sein ganzes langes Leben bestimmt hatte. Obwohl Mahat mehr und mehr Bücher verschlang und mit den besten Gelehrten und Denkern der Stadt diskutierte, konnte sie Giulio nicht umstimmen. Sie verstand seinen Starrsinn nicht, er verstand ihren Unglauben nicht.
Dennoch hinterließen ihre Argumente Spuren bei ihm, die er selbst kaum zugeben konnte, die aber sein Gedankengebäude erschütterten. Die Mauer des Glaubens, die er um sich errichtet hatte, bröckelte unter ihren unermüdlichen Attacken. Wohin sollte er sich wenden, wenn das Licht ihrer Vernunft alles, was ihn ausmachte, als nichtig erklärte? Mahat gegenüber schwieg er und obwohl sie etwas ahnte, kam das Ende überraschend. Er, der früher erwachte als alle anderen, steckte eines Nachts alle seine Bilder und die Villa in Brand. Mahat schlief in einem äußeren Zimmer und konnte sich rechtzeitig retten, die anderen Bluttrinker aber gerieten direkt in die Flammen, als sie einer nach dem anderen aus dem Tempelschacht herauf stolperten. Sie stand draußen und hörte ihre Schreie, zur Untätigkeit verdammt. Giulio selbst verschwand spurlos, obwohl sie nächtelang ganz Florenz nach ihm absuchte. War er selbst in die Flammen gegangen oder hatte er der Stadt den Rücken gekehrt? Fest stand, dass ihr nichts außer Erinnerungen und Asche blieb, solange sie selbst dort verweilte.
Unsterblicher Reichtum Venedigs (1520-1610)
Zum ersten Mal stand sie auf eigenen Beinen. Giulio hatte sie gelehrt, zu überleben, und mit diesem Wissen ausgestattet reiste sie quer durch Oberitalien, staunte über die zarten und lebendigen Malereien der Sixtinischen Kapelle und vergnügte sich mit den Kaufmännern Mailands und ihren Schätzen. Bei der Ankunft in Venedig aber verblasste alles zuvor Gesehene. Die orientalische Schönheit des Dogenpalasts und der Markuskirche, die verspielten Verzierungen, die unzähligen Brücken, die an Kanäle gedrängten Häuser und die Eleganz der schwarzen Gondeln auf dem schwarzen Wasser verzauberten sie und hielten sie vorerst in der schwimmenden Stadt fest. Zu dieser Zeit war Venedig einer der größten und reichsten Stadtstaaten Italiens.
Mit den Überresten von Giulios Vermögen erwarb Mahat einen kleinen Palazzo und begann, im damals vorherrschenden Stil zu malen, der Vernunft und Träumerei, Realismus und Überirdisches vereinte. Wie viele andere erkor sie Michelangelo zu ihrem größten Vorbild. Ihr Respekt vor den Menschen wuchs, wirkten ihre eigenen Gemälde doch stümperhaft und kindlich im Vergleich zu seinem Genie. Natürlich nahm sie am gesellschaftlichen Leben teil und sprach nicht nur mit den Reichen und Adeligen, sondern auch mit dem Volk, den Gondelführern, den Botenjungen, den Glasbläsern auf Murano. Auch begann sie, nach dem Vorbild antiker Autoren philosophische Notizen und Betrachtungen niederzuschreiben, einem Tagebuch nicht unähnlich, und dieser Gewohnheit sollte sie die nächsten Jahrhunderte überall nachgehen, wo Papier und Schreibgerät zur Verfügung stand. Außerdem verehrte sie Leonardo da Vinci und lauschte jeder Nachricht über seine umfangreichen Forschungen und Werke. Da er später als Universalgelehrter bezeichnet wurde, nahm sie diese Bezeichnung für sich selbst an, obwohl sie den Naturwissenschaften fern blieb und sich nur mit dem Geist beschäftigte.
Venedigs Glanz und Prunk schienen unsterblich, aber Mahat musste erkennen, dass die Zeit unaufhörlich weiterlief. Der Handel um das Mittelmeer verlagerte sich zusehends auf andere Zentren, fremde Völker bedrohten die Lagune und Mahat reiste schweren Herzens weiter, um der Gefahr zu entgehen und andere Kulturen kennenzulernen.
Das Frankreich des Sonnenkönigs (1610-1730)
In ganz Europa zog sie kein anderes Land so an wie Frankreich. In wenigen Jahrzehnten sollte es zur Großmacht aufsteigen, die die Geschicke des Kontinents in Händen hielt, und eine kulturelle Hochblüte entwickeln, an denen sich alle übrigen Fürsten und Königshöfe orientierten. Als Mahat sich in Paris niederließ, häuften sich die Vorzeichen: Kardinal Richelieu stärkte die Macht der Krone, führte Frankreich in den Dreißigjährigen Krieg und brachte des Elsass an sich, sein Nachfolger Mazarin unterzeichnete den langersehnten Pyrenäenfrieden und besiegelte somit das Ende der spanischen Vorherrschaft. Frankreich, vor allem Paris, war reicher und stolzer als je zuvor. Während am Land immer größere Armut herrschte, strömten Künstler und Adelige zur Hauptstadt, die zwar schmutzig und laut, aber auch atemberaubend schön und lebendig sein konnte, wenn man Mittel zum Genuss besaß.
Mahat gab sich als italienische Adelige aus, die sie ja war, und hüllte sich in schulterfreie Kleider mit langen, weißen Ärmeln und weiten Röcken, wie es alle taten. Obwohl der Hofadel sich mit Gold- und Silberbrokat, Diamanten, Rubinen und Smaragden an Prunk gegenseitig überbot, wählte sie stets nur eine Farbe: tiefes Rot, die Farbe ihres Haares und des Blutes, das sie liebte. Sie verpasste keine Gesellschaft, kein Fest und keine kulturelle Veranstaltung (sofern diese nach Sonnenuntergang stattfanden) und schon bald blieb sie der Gesellschaft als geheimnisvolle „Mademoiselle Rouge“ in Erinnerung.
Gleichzeitig lauschte sie den Professoren der Sorbonne, sprach mit den Studenten der Académie, Malern im Louvre, den Geistlichen der Rue du Temple und in Notre-Dame, deren majestätische Schönheit sie nie satt hatte. Descartes‘ Rationalismus faszinierte sie, Montesquieus und Rousseaus Ideen zur Staatsführung brachten sie zum Nachdenken. Außerdem hörte man aus dem Heiligen Römischen Reich allerlei Interessantes über einen gewissen Leibniz, einem Mathematiker und Metaphysiker, der von der „bestmöglichen aller Welten“ und von Gott als dem vollkommensten Seienden sprach. Über diese Vorstellung konnte Mahat nur lachen.
Um 1640 betrat ein ungewöhnlicher neuer Spieler die Bühne der Politik und Hofintrigen. Obwohl von blauem Blut, arbeitete er sich aus eigener Kraft zu einem der prestigeträchtigsten Finanzämter hoch, renovierte den heruntergekommenen Familienbesitz in der Auvergne und erlangte sogar den Respekt der Herrscher. Dieser Laurent de Richeville erregte Mahats Aufmerksamkeit: Auf den ersten Blick wirkte er aufrichtig und von vollendeter Höflichkeit, aber wer seine politische Karriere beobachtet hatte, wusste, dass nur Gerissenheit und Geschicktheit jemanden so weit bringen konnte. Mahat brauchte wenige Gespräche, um in seinen Gedanken den brillanten Strategen zu sehen, den er vor aller Welt geheim hielt. Er seinerseits war fasziniert von dem Geheimnis um die „Mademoiselle Rouge“. Sie sprach Französisch ohne Akzent, obwohl sie aus Italien stammte, und die älteren Hofdamen sagten, sie sei in zwanzig Jahren nicht einen Tag gealtert.
1643, zufällig das Jahr der Inthronisierung des vierjährigen Ludwig XIV., vollzog Mahat die Blutstaufe. Ohne zu zögern, ohne sein Alter oder seine Position zu bedenken, machte sie Laurent zum Vampir. Er verzieh ihr nicht. Die Rollen schienen vertauscht: Nach dem anfänglichen Schock war sie es, die sich endlose Vorwürfe und indirekte Anklagen anhören musste.
„Was bin ich für ein Beamter, der nur bei Nacht arbeitet? Wann bleibt mir Zeit für die Vergnügungen bei Hofe? Man wird sich fragen, warum ich bei Banketten keinen Bissen anrühre!“, rief er mit vor Sarkasmus triefender Stimme durch den Palais, wenn zu später Stunde keine Diener mehr zugegen waren.
„Wir können sie täuschen“, antwortete Mahat zum hundertsten Mal.
„Inzwischen kann ich ihren Gedanken befehlen, dich für einen Menschen zu halten, aber wenn du nicht Vorsicht walten lässt, hat das keinen Sinn.“ Sie wusste, dass er sein Spiel mit dem Feuer genoss, sein Jonglieren mit den Reichen und Mächtigen, deren Dekadenz er verachtete. Sie konnte es ihm nicht nehmen, aber die Zeit würde ihm bald seine Bedeutungslosigkeit aufzeigen.
Auf die Rote Eminenz folgte die Graue Eminenz, deren Gunst Laurent nicht so leicht erringen konnte. Wieder gab er Mahat die Schuld.
„Dank Mazarin darf ich durch Saint-Germain huschen wie ein Schreckgespenst und die feinen Herrschaften an ihre Steuerpflicht erinnern. Sie nennen uns jetzt schon die ‚Bluthunde des Königs‘, was wird erst passieren, wenn der wirkliche König sich erhebt? Währenddessen sitzt Fouquet, dieser Bürgerliche, auf seinem Gold und lacht sich ins Fäustchen!“ Mahat warf theatralisch die Arme in die Luft.
„Mon dieu, ich erkenne immer deutlicher Molières Menschenfeind in dir! Soll ich mich etwa von dir abwenden und oberflächlichen Tändeleien hingeben wie Célimène, um deine Klagen zu ersticken?“
Aber es gab ebenso Momente, in denen tiefe Gefühle und Zärtlichkeit durchblitzten. Als Vampir war er ein gelehriger Schüler: Oft genug führte sie ihn über den nächtlichen Pont-Neuf mit seinen Poeten und Flugblattkritzlern und er führte sie zurück auf die roten Bettlaken, beide noch warm vom Blut. Laurent entdeckte, dass seine honigsüßen Worte Menschen noch leichter entzückten als früher und dass er ihnen wunderbare Paradiesgärten oder fürchterliche Höllenszenen vorgaukeln konnte. Von diesen Fähigkeiten machte er oft und schamlos Gebrauch, um seine Position bei Hof zu stärken. Immer öfter jagte er im Louvre oder in den Tuilerien, an gepuderten Hälsen des Hofadels, den er so sehr verachtete. Seine Skrupellosigkeit entsetzte Mahat.
Aber wenn sie in hellerleuchtete Salons traten und sich unter die Leute mischten, der Musik lauschten und leere Worte voller spitzer Untertöne austauschten, vergaß Mahat nur allzu gerne, was sie in dunklen Nischen und auf engen Treppen sah. Ludwig XIV. wurde älter, stolzer und eigenwilliger.
„Was wird erst passieren, wenn der richtige König sich erhebt?“ Niemand konnte es voraussehen: 1661 nahm der junge König die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand, die sich bald zur eisernen Faust schloss. Er allein lenkte den Staat, er allein erließ Gesetze, er allein verurteilte oder begnadigte.
„L’etat – c’est moi!“ – und der Staat war mächtiger als je zuvor. Vor den Toren von Paris erhob sich Versailles aus dem Erdboden wie ein Wunder oder ein Traum, und der Hofstaat folgte seinem strahlenden Sonnenkönig wie ein Haufen schillernder Motten dem Laternenlicht.
Während der Prunk einen nie gekannten Höhepunkt erreichte, zerbrach die Zweisamkeit des Pariser Vampirpaars immer mehr. Früher oder später musste die zerstörerische Leidenschaft ihrer Beziehung überkochen. Der letzte Streit endete beinahe in entblößten Zähnen und Krallen. Später schmiegten sie sich eng aneinander und seufzten. Laurent raffte als Erster seine Vernunft zusammen.
„So können wir nicht weiterleben. Paris ist zu klein für zwei Vampire wie uns. Wer weiß, vielleicht verlieren wir die Beherrschung und reißen die ganze Stadt mit in unseren Krieg. So, wie wir jetzt sind, müssen wir uns trennen.“ Mahat drückte seine Hand ebenso wie der Schmerz ihr Inneres zusammenzog. Seine Gedanken spiegelten die ihren:
„Paris ist mein, Frankreich ist mein. Du musst das Land verlassen.“
Obwohl sie widersprechen, schreien, ihn zerfetzen wollte, folgte Mahat seinen Worten.
„Wir werden die Jahrhunderte überdauern und uns wiedersehen, wenn wir bereit füreinander sind“, sagte sie vor den Toren des Palais, wo er sie noch hörte. Die nächsten fünfzig Jahre verkroch sie sich in den Pyrenäen, gerade hinter der spanisch-französischen Grenze, sprach mit niemandem und ernährte sich von Dörflern, den Mönchen des nahen Klosters und vorbeikommenden Reisenden.
Großbritannien & wieder Frankreich (1730-1789)
Aber irgendwann regten sich frischer Tatendrang und Neugierde. Mahat setzte über nach England, das nicht mehr England hieß. Inzwischen hatte die Glorreiche Revolution Wilhelm von Oranien auf den Thron gesetzt, das Parlament an seine Seite gestellt und die Staatsform der parlamentarischen Monarchie ins Leben gerufen. England und Schottland reichten sich als Großbritannien die Hände. Unter einer im restlichen Europa unbekannten Meinungsfreiheit arbeiteten Adel und Volk zusammen, um eine blühende Wirtschaft und umfassende Modernisierung für ihr Land zu erreichen. Auf einmal bezahlte man mit kleinen, leichten Papierscheinchen oder legte sie auf der frisch gegründeten Bank of England an. Unzählige Zeitungen und Lokalblätter schossen aus dem Boden, was Mahat ganz besonders entzückte. Dieses gewitzte, disziplinierte und stolze Volk scheute sich nicht, seine Meinung lautstark kundzutun, ja, seinem Monarchen direkt ins Gesicht zu sagen!
Natürlich versenkte sie sich in die Philosophie, den britischen Empirismus, dessen nüchterne Logik mit der der antiken Klassiker konkurrierte. Das Triumvirat Bacon, Hobbes und Hume fesselte sie nächtelang und wenn sie durch die elektrisch beleuchteten Straßen huschte, lachte sie manchmal und flüsterte
„Homo homini lupus est“ in die helle Nacht, berauscht von der Ironie ebenso wie vom frischen Blut. In einer dieser Nächte vertrat ihr auf einmal eine Gestalt mit langen, goldenen Locken und im enganliegenden Jackett eines Forschers den Weg.
„Wer bist du und was führt dich nach London?“, fragte sie und in Gedanken:
„Warum hast du dich nicht bei uns gemeldet, die wir unserer Rasse vorstehen?“ Mahat erstarrte. War es nicht ein Mensch, der vor ihr stand?
„Hätte ich um diese Sitte gewusst, wäre ich ihr gerne gefolgt. Gestattest du mir, das nachzuholen? Ich suche nur Wissen und Zerstreuung, keinen Streit.“ Das Wesen trat ins Laternenlicht: ein steifer Hut, auf dem eine seltsame Brille mit runden Gläsern und einem breiten Band saß, eine pulsierende Aura und das hübsche Gesicht einer Vampiress.
„Ich darf also annehmen, du bist dem Kodex treu?“ Mahat zog die Augenbrauen zusammen und enthüllte der anderen ihre Verwirrung.
Diese lachte und lud sie in ein etwas düsteres, aber elegantes Anwesen in Westminster ein, das ebenso viele Bluttrinker wie Menschen zu beherbergen schien. In gemütlichen Lehnsesseln am Kaminfeuer stellte sich die Vampiress mit der blonden Mähne als Lexis vor, Mitglied des Rates der Alten, der den Kodex der Vampire ins Leben gerufen hatte und aufrecht erhielt. Mahat erkannte mit Erstaunen, dass er ihren eigenen Prinzipien fast eins zu eins entsprach: ihre Natur vor Menschen zu verbergen, nur körperlich und geistig Würdige in ihre Reihen aufzunehmen, nicht von Kindern zu trinken, allen Menschen Respekt entgegenzubringen. Als die Morgenstunden nahten, bekannte Mahat sich reinen Gewissens zum Kodex.
Sie trafen sich wieder. Lexis‘ Begeisterung für Geschichten vom Kontinent brachte sie zum Lachen und ihre lebhafte, teils übermütige Art war eine willkommene Abwechslung von der langen Einsamkeit. Gleichwohl stellte sich heraus, dass Lexis‘ Zähne spitzer und geschliffener waren als vermutet: Im Dienst des Rates jagte sie Vampire, die ihrer Rasse Schande brachten, um sie zum Kodex zu bekehren oder hinzurichten. Anfangs lernte Mahat ebenfalls in dem altenglischen Anwesen, dem Stammhaus des Rates in London, obwohl die steife Höflichkeit und Selbstsicherheit der Älteren sie irritierte. Später mied sie das Haus, wenn sie konnte. Trotzdem freundete sie sich mit Lexis an und begleitete sie manchmal zu Aufträgen innerhalb der Stadt. Obwohl noch jung, kannte Lexis ihre Fähigkeiten genau und hatte sie in sorgfältiger Übung perfektioniert. Während der Jagd streifte sie die Aura eines Menschen über, wurde mühelos eins mit den Schatten und handhabte eine Vielzahl leichter Waffen mit geübter Kaltblütigkeit. Das strategische Geschick, mit dem sie ihre Partner einsetzte und das Opfer genau dorthin brachte, wo sie es haben wollte, hatten ihr den Spitznamen „General“ eingebracht.
Mit der Zeit verdrängte Mahat Lexis‘ andere Partner. Zusammen entwickelten sie eine Strategie, die ihnen wie maßgeschneidert passte: Den Kern bildeten Mahats Urteilsspruch aufgrund der Gedanken des Gegenübers und Lexis‘ blitzartige Hinrichtung aus dem Schatten. Außerdem gab es einen Notfallplan, den Mahat mit Schrecken an sich entdeckte: Sie brachte das Blut im Körper zum Kochen und das arme Opfer schrie, als würden die Höllenfeuer selbst es verzehren. Selbst die Dankbarkeit und großzügigen Entlohnungen des Rates, selbst Lexis‘ beruhigende Worte erstickten ihr Entsetzen über diese Grausamkeit nicht. Hinter ihrem Rücken nannte man sie „Bloody Mary“ wie die englische Katholikenkönigin, die unzählige Protestanten hinrichten ließ. Gleichzeitig trieb ihr Stolz und Gerechtigkeitssinn sie weiter. Die stärksten und klügsten Abtrünnigen jagten sie kreuz und quer durch England, Schottland und Wales, wenn nötig sogar bis in die Normandie. Während Großbritannien und Frankreich im Siebenjährigen Krieg Preußen, Österreich und Russland gegeneinander aufhetzten, schlugen die Bluttrinker ihre eigenen Schlachten in den Schatten.
Großbritannien gewann die französischen Kolonien in Nordamerika und stieg zur Kolonialmacht schlechthin auf. Man trank Tee, staunte über James Watts Dampfmaschine und die Hässlichkeit der ersten Fabriken. Die Industrielle Revolution war in vollem Gange und mit ihr eine neue kulturelle Blüte. Wenige Jahre später erklärte Nordamerika die Unabhängigkeit und nannte sich USA. Obwohl Mahat all diese Ereignisse beobachtete, weckten die kurzen Reisen nach Frankreich eine viel größere Sehnsucht in ihr und verstärkten die Ablehnung gegen den Rat. Lexis, inzwischen mehr als eine Freundin, liebte die eigene Bewegungsfreiheit und verstand die Trennung, wie sie immer verstanden hatte.
Mahat vertraute den Großteil ihres Vermögens der Bank of England an und überquerte einmal mehr den Ärmelkanal. Widerwillen und Hoffnung mischten sich in ihr bei der Ankunft in Paris. Aber das Land war in Aufruhr, das Volk rebellierte und Paris selbst stand kurz vor der Revolution. Derjenige, den sie suchte, war nirgendwo zu finden, nicht einmal in menschlichen Gedanken zu erspähen.
Deutschland und Wiener Kongress (1789-1880)
Hastig zog sie weiter ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Aber auch dort bot ihr kein Ort lange Frieden und Schutz: Im anbrechenden 19. Jahrhundert ordneten sich die deutschen Fürstentümer Napoleon Bonaparte unter, der Preußen vernichtete und mit seiner Kontinentalsperre den Unmut benachbarter Länder erregte. Angesichts seines Vormarsches verließ Mahat Leipzig und zog sich in die K&K-Monarchie der Habsburger zurück, nach Wien. Während die Mächtigen hinter verschlossenen Türen das Schicksal Europas besprachen, schlüpfte Mahat mithilfe ihrer üblichen Verkleidung in den Palais am Ballhausplatz und mischte sich unter die Tanzenden des Wiener Kongresses. Welche Fülle an Nationalitäten und Kulturen die alte Barockstadt zu dieser Zeit beherbergte!
Bündnisse wurden ausgehandelt und aufgelöst, Verträge mit Partnern und den Gegnern jener Partner wurden geschlossen und gebrochen, Versammlungen wurden abgehalten. Später war ein Großteil dessen der komplizierten Politik des preußischen Kanzlers Bismarck zu verdanken, die außer ihm selbst wohl niemand durchschaute – nicht einmal ein Kind dreier Jahrhunderte. Zwischendurch verschwanden politische Diskussionen gänzlich aus den Salons, die aufgeheizte Stimmung wurde ignoriert und auch Mahat vergrub sich in Büchern, die ihr von Hegels Vorstellung des Weltgeistes und seinem dialektischen Geschichtsverständnis erzählten. Auf einmal war Geschichte nicht mehr einen ständige Wiederholung der Zeitalter, sondern eine Aufwärtsbewegung, eine Veränderung zum Besseren, ausgelöst durch Missstände. Wenn Hegel schrieb, durch das Verstehen der Vergangenheit sei eine Vorausdeutung der Zukunft möglich, nickte sie begeistert. Gleichzeitig sog sie Kants Ideen der Grenzen menschlicher Erkenntnis und seinen Diskurs zwischen Vernunft- und Pflichtethik auf.
Freilich hielten es die Habsburger nie lange ohne Bälle und Abendgesellschaften aus, an denen Mahat eifrig teilnahm. Die Lebendigkeit der menschlichen Gesellschaft war es, die sie in England vergessen und gleichzeitig vermisst hatte. Inzwischen bewegte sie sich so selbstverständlich unter ihnen, dass sie fast immer für eine der ihren gehalten wurde. Obwohl sie nicht wie Lexis ihre Aura färben konnte, reichten ein paar freundliche Worte, ein höfliches Lächeln und manchmal eine sanfte Berührung der Gedanken für ihre Zwecke aus. Daneben ging sie einer Tätigkeit nach, an der sie bereits in Leipzig Gefallen gefunden hatte: durch die hohen steinernen Korridore der Universität zu streifen, die Schätze ihrer Bibliothek zu erforschen und mit den Akademikern Meinungsaustausch zu betreiben. Obwohl das Tageslicht ihr die meisten Hörsäle versperrte, konnte sie doch selbständig ihr Wissen mehren und in ein paar Abhandlungen und theoretischen Arbeiten zusammenfassen, die tatsächlich Anklang bei ihrem Publikum fanden. So veröffentlichte sie ein wenig hier und da, vorsichtig und langsam, und wirbelte nicht einmal in akademischen Kreisen allzu viel Staub auf.
Es war nicht genug. Eines Nachts saß sie in der Bibliothek über ihren lampenbeleuchteten Notizen, als ein junger Mann mit kastanienbraunem Seidenhaar Interesse an ihren Arbeiten zeigte. Dieser junge Mann war ein Vampir namens Antonius, angereist aus dem Deutschen Reich und selbst ein Gelehrter. Mahat gab ihrem Drang nach Zweisamkeit nach, obwohl seine Ansichten sie entsetzten.
„Bedenke doch, meine Liebe: Wir wurden mit übermenschlicher Kraft und Fähigkeiten ausgestattet. Die meisten von uns eignen sich über die Jahrhunderte Riesenmengen an Wissen auf verschiedensten Gebieten an. Bedeutet das nicht, wir sollen uns über die Menschen erheben als weise und gütige Herrscher? Zeigt nicht unsere Natur, dass wir gerade dafür geschaffen wurden?“ Mahat warf einen nervösen Blick um sich. Sie saßen mitten im belebten Café Griensteidl, aber zwischen Schwätzern, Kaffeetrinkern und kritzelnden Schriftstellern verklangen seine Worte ungehört.
„Ich verstehe ja deinen Ansatz, aber ich kann einfach nicht gutheißen, dass du diese Theorie ernsthaft verfolgst! Erstens: Wer hat uns geschaffen, auf welche höhere Macht willst du dich berufen? Wie Nietzsche sagt: Gott ist tot. Zweitens: Höre auf meinen Rat und mache nicht den Fehler, die Menschen zu unterschätzen! Wir mögen ihnen körperlich überlegen sein, aber wir sind nicht unfehlbar und vor allem nicht unverwundbar.“
Aber Antonius hörte nicht. Bald ertrug es Mahat kaum, mit ihm zusammen zu sein, denn immer verbarg sie einen Gedanken vor ihm:
„Wenn du dich zu weit aus dem Fenster lehnst, habe ich die Pflicht, dir deinen klugen Kopf abzuschlagen …“ Trotzdem brachte sie es nicht über sich, denn er war ein aufregender Gesprächspartner und origineller Gelehrter. Ihr Zögern sollte Folgen haben: Antonius veröffentlichte ein schmales Büchlein, das, obwohl im verschlungenen und mit Metaphern durchsetzten Stil Nietzsches verfasst, eindeutig Spekulationen über die Existenz und historische Rolle der Vampire anstellte. Spätestens da hätte sie ihn hinrichten müssen. Stattdessen redete sie mit ihm, sah noch Hoffnung, ihn umzustimmen, vertraute darauf, dass die Empörung der Menschen ihn aufrütteln würde.
Soweit kam es nicht. Auf einmal standen Abgesandte aus Prag vor der Tür. Mahat erkannte sie sofort an den Auren, aber Antonius, mit dem sie gerade in seiner hübschen Dachwohnung zusammensaß, ahnte nichts von der gnadenlosen Gerechtigkeit des Rates. Die Ereignisse überschlugen sich und für wenige Momente wusste niemand, wo oben oder unten war. Mahat verlor sowohl Überblick als auch Beherrschung und konnte im Nachhinein nicht sagen, wen sie verfehlt, verletzt, sogar getötet hatte. Die Zeit hatte ihre Fähigkeit des Blutkessels gestärkt und die Angst, einen lieben Freund zu verlieren, ihre Wut geschürt. Am Ende blieb sie allein zwischen Glasscherben und Staub zurück.
In der nächsten Nacht besuchten sie Mahat in aller Förmlichkeit und erklärten, sie verstünden ihre Gefühle, sie kannten ihren Ruf in England und ihre Verdienste für den Rat. Daher seien sie bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn sie ihre Schuld zugab und weiterhin dem Kodex treu blieb. Was blieb ihr anderes übrig als sich der Vernunft zu beugen und zuzustimmen? Dieser Zwischenfall breitete ein rotes Tuch über Wien und erstickte den Reiz seiner Eleganz, seiner Vergnügungen.
Dunkle transsilvanische Wälder (1880-1920)
Also wandte sich Mahat nach Osten, besser gesagt nach Transsilvanien, das damals noch den Habsburgern gehörte. Trotz ihres Widerwillens hatten Antonius‘ Theorien Neugier auf die uralte Frage geweckt: Wie war ihre Rasse entstanden? Bram Stokers „Dracula“ trat eine regelrechte Lawine an Vampir- und Schauerromanen los, aber Mahat interessierte sich nicht für Fiktion, sondern für die Legenden, das Körnchen Wahrheit dahinter. Also durchforstete sie Rumänien, Serbien, Bulgarien und Albanien und untersuchte den Vampirmythos so genau wie möglich ohne lange an einem Ort zu bleiben oder Aufsehen zu erregen.
Abgesehen von bruchstückhaften Informationen über Vlad Tepez, den „Pfähler“, fand sie nichts. Sagen und Kindermärchen über böse Geister und Satan bedienten sich der Geschichte, um Sitten und den christlichen Glauben zu festigen – all das war Mahat längst bekannt. Trotzdem trieb sie sich eine Weile in den Dörfern und dunklen Wäldern herum, erfrischt von der Einfachheit des Volkes. Sie gab sich als reisender Forscher aus und schlief hin und wieder in Kirchengrüften oder Kapellen, um in diesen letzten Hochburgen des Aberglaubens und des orthodoxen Christentums kein Misstrauen zu wecken.
Im Großen und Ganzen ließ sie sich treiben, von Nacht zu Nacht, von Mahlzeit zu Mahlzeit, und lernte nebenbei, sich auch am Land und in der Wildnis sicher vor dem Tageslicht zu verbergen. Schließlich drängten sie schlechte Nachrichten und die steigende Unzufriedenheit der Bevölkerung immer weiter nach Osten ab. Auf der Flucht vor den Schreckgespenstern des Kommunismus und Nationalismus, die bald zur grausigen Realität wurden, verschwand Mahat aus Europa und überquerte die Grenze zu Asien.
Die Wunder Asiens (1920-1993)
Den Orient und Indien passierte sie ohne längere Aufenthalte, aber nicht ohne die fremdartige Architektur und Kultur gebührend bewundert und bestaunt zu haben. Das alte Europa glaubte, alles gesehen, alles gehört, alles gewusst zu haben, aber wie erfrischend breitete sich dieses neue Verständnis vor ihr aus!
In China erwarteten sie allerdings ebenso erbitterte Konflikte und Unruhen wie die, denen sie gerade entkommen war: Die Guomindang und die Kommunisten bekriegten einander, verwüsteten und beraubten dabei ihr eigenes Land und wehrten sich außerdem gegen die immer wieder einfallenden Japaner. Mahat verzichtete darauf, diese blutigen Streitereien mit anzusehen, und verkroch sich die meiste Zeit in buddhistischen Klöstern und Berghöhlen in Tibet und der Mongolei. Wenn Maos Rote Armee sich näherte, zog sie weiter, wagte sich nicht in Städte. Schon wenn sie sich einigen Dörflern zeigte, riefen ihre helle Haut und ihr rotes Haar eher Angst und Schrecken hervor als Neugierde. In den Klöstern begrüßte man sie freundlicher, unterrichtete sie sogar in den Lehren des Buddhismus und las ihr ein wenig aus Sutren vor. Anfangs schien diese Philosophie wie reinster Nihilismus, aber mit zunehmender Beschäftigung stellte sie sich als hochkompliziert und durchaus optimistisch heraus. Bedeutete der Kreislauf des Karma nicht, dass jeder sein Schicksal selbst lenkte? In den Klöstern lernte Mahat genug Chinesisch, um sich ab und an mit einfachen Bauern oder Handwerkern zu unterhalten, die sie im Hinterland antraf. Anschließend vergaßen sie, dass sie jemals mit einer rothaarigen Europäerin gesprochen hatten, denn Ausländer in der Volksrepublik China waren geradezu ein Wunder und außerdem strengstens bewacht.
Immer öfter suchte sie die Gesellschaft der freimütigeren und freundlicheren Mönche in Tibet und die uralte Schönheit des Himalayas hielt sie trotz der Scharmützel mit den Chinesen bis 1959 dort fest. In diesem Jahr streifte sie in der Nähe einer größeren Siedlung herum, als sie auf einmal eine tiefe Unruhe überkam. Sie blieb stehen und lauschte: auf das Geklimper von Waffen und ferne Schreie oder doch nur eine Brise in den Windspielen der Tempel? Sie dachte sich nichts und huschte weiter durch die Gassen, bis ein ahnungsloser Mönch ihrem Durst in die Arme lief. Vielleicht einen Monat später erhob sich die Bevölkerung gegen ihre chinesischen Tyrannen. Bei Nacht und Nebel entkam der Dalai Lama, das politische und gleichzeitig religiöse Oberhaupt Tibets, nach Indien. Weder zuvor noch in diesem Moment merkte Mahat, dass sich zum ersten Mal die Fähigkeit der Vorahnung in ihr geregt hatte …
Lange Zeit hielt sie sich von jeglicher Zivilisation fern und widerstand der Versuchung, sich den Menschen zu nähern oder gar einen Gefährten zu schaffen. Die Einsamkeit wuchs, obwohl die Schönheit unberührter Landschaften ein wenig Frieden brachte. Über einige Umwege und sehr spät erfuhr sie schließlich vom Tod Mao Zedongs und einer Milderung der Verhältnisse unter Deng Xiaoping. Noch einige Jahre wanderte sie wie eine gespenstische Landstreicherin durch Berge und Hügel. 1991 wagte sie den Marsch durch Kontinentalchina und erreichte Hongkong, zu dieser Zeit eine britische Kolonie, in der Europäer am ehesten toleriert wurden. In diesem bunten Völkergemisch ließ sie sich für eine Weile nieder, holte die Nachrichten des letzten Jahrhunderts nach und gewöhnte sich an Dinge wie Radios, Telefone, Kameras und Fernseher, die sich vor ihrem Untertauchen noch niemand hatte leisten können. Ab und zu überkam sie ein Gefühl der Fremdheit, gleichzeitig hoffte sie auf eine bessere Zukunft für Europa und Asien mithilfe der Demokratie.
Nach und nach fand sie sich in Hongkong wieder zurecht, das trotz Friedensbemühungen in die Lager der Briten, Franzosen, Holländer und so weiter geteilt blieb. Als kleines Abbild der Weltpolitik war das durchaus faszinierend, aber Mahat sehnte sich nach Kultur und Kunst. Also bestieg sie nach einigem Zögern und mit großem Unbehagen ein Flugzeug, das sie über den Pazifik in die USA brachte.
The United States of Amerika (1993-heute)
Man schrieb das Jahr 1993. Aus der trockenen Wüste Hongkongs gelangte Mahat in eine blühende Oase moderner Zivilisation, in der sich Kulturen, Stile und Meinungen durcheinander mischten wie nie zuvor. Obwohl etwas spät, stürzte sie sich kopfüber in die Neue Welt und genoss in vollen Zügen, was sie zu bieten hatte. Zunächst ließ sie sich in San Francisco nieder, begann jede Nacht mit einem Blick auf die Golden Gate Bridge und die hellerleuchtete Skyline der Stadt. Später lernte sie die Vorteile eines Autos kennen, fuhr kreuz und quer durch Kalifornien und blieb in Berkeley hängen. Wieder einmal übte die Universität eine gewisse Anziehungskraft auf sie aus. Wie leicht es inzwischen war, Vorlesungen nach Sonnenuntergang zu besuchen! Natürlich belegte sie Geschichte und Philosophie und verbrachte die nächsten Jahre damit, die wunderbaren Bibliotheken auszunutzen, sich am Studentenleben um den Campus zu berauschen und über Oper, Theater und Kunst den vorherrschenden Zeitgeist aufzusaugen.
Gleichzeitig erwachte die altbekannte Sehnsucht nach einem vampirischen Gefährten und brannte immer heller, je länger sie in Berkeley verweilte. Vor allem überkam sie Sehnsucht nach Laurent und die Hoffnung, die allzu harsche Trennung rückgängig zu machen. Mit der Zeit nistete sich eine vage Ahnung ein, dass sie ihn wiedersehen könnte, dass sie wieder zusammenkommen könnten. Einige Nachrichten aus Arizona bestärkten diese Idee nur: In der Stadt Phoenix sollen ungewöhnlich viele blutleere Leichen auftauchen … Nur ein Vampir erkannte das Werk von Vampiren. Also bereitete Mahat den Umzug vor und fuhr eigenhändig im nagelneuen silbernen Citroën nach Phoenix und wartete. Früher oder später würde er ihr Versprechen einlösen.