Ein halbes Jahr war vergangen. Sehr, sehr ereignisreiche Monate. Lazarus konnte noch immer nicht glauben, dass er Jaana tatsächlich befreit hatte. Gefoltert vom Syndikat in Phoenix hatte er sie aus ihrer Zelle geholt. Das Konsortium hatte zeitgleich eine Großoffensive gegen das Labor gestartet und vielleicht hatte Lazarus nur so mit Jaana entkommen können. Kitty war dagewesen. Sie hatte gekämpft. Für das Konsortium, eine Maschinenpistole in den Händen, als sie sich in einem der vielen Flure plötzlich gegenübergestanden hatten. Er war in diesem Moment so stolz auf sie gewesen! Endlich stand sie mit allem, was sie besaß für das ein, woran sie glaubte. Als sie einander aber in die Augen gesehen hatten, waren da unfassbar viel Schmerz und unbeantwortete Fragen. Es war ein Moment wie in einem Traum gewesen. Lazarus, eine völlig verwirrte Jaana in den Armen haltend, musste Kitty schmerzlich daran erinnert haben, wie er, ohne sie einzuweihen und schwerst verwundet, klammheimlich nach Phoenix aufgebrochen war, um eine andere Frau zu retten. Kitty und er hatten sich in die Augen gesehen und er hatte gewusst, sie war ihm nicht böse. Das wäre zu einfach gewesen. Er hatte sie hintergangen, enttäuscht und verletzt, auch wenn nichts davon seine Absicht gewesen war. Schreie waren laut geworden und Schüsse, die neben Kitty in der Wand eingeschlagen waren. Die Weißblonde hatte mit ihrer Waffe angelegt und war, das Feuer erwidernd, in Richtung der Schüsse geschritten. Hinter ihr war zunächst Gunther, der Security-Chef des Elysium, bewaffnet mit einem Elefantentöter von einem Revolver, in Erscheinung getreten, dann weitere tapfere Kämpfer, die zum Konsortium gehören mussten.
Das war Lazarus Chance gewesen, die völlig wirr sprechende Jaana, die ihn wohl für Einbildung oder eine Vision gehalten hatte, und auch seinen eigenen, geschundenen Leib aus dem Laborkomplex zu retten. Er hatte seinen Schützling auf die Rückbank des Wagens gelegt, den er seinem alten Freund Wesley entwendet hatte, und sie in eine wärmende Decke gehüllt, bevor er zurück nach Venedic gefahren war.
Dort angekommen hatte er sich hilfesuchend an Dante Scirea wenden wollen. Allerdings hatte er weder ihn, noch seine rechte Hand, Rebecca Burnstean vorfinden können. Also hatte er Jaana bei sich, in seinem Anwesen, untergebracht. Hier hatte er über Wochen hinweg versucht, sie zu pflegen, mental zu ihr durchzudringen, doch es hatte nichts geholfen, was er ihr hatte bieten können. Sie gefangen in Psychosen, von denen er nichts verstanden hatte, sehen zu müssen, hatte ihm das Herz zerissen. Und er hatte sich eingestehen müssen, dass er – wie immer – seiner Tochter nicht würde helfen können. Professionelle Unterstützung war von Nöten gewesen!
Wie es Kitty ergangen war, hatte er zunächst nicht gewusst. Sie hatte seine Nummer gehabt und er ihre, beide hatten aber nicht gewagt, den ersten Schritt zu tun, oder waren zu stolz gewesen. Jedenfalls war sie nie zu seinem Anwesen zurückgekehrt, in welchem sie die bereits seit etwa zwei Jahren mit ihm zusammen gewohnt hatte. Dante, der nun endlich wieder telephonisch zu erreichen gewesen war, nach langen Verhandlungen in New York, war mehr als gewillt gewesen, sich um Jaana zu kümmern. Für alle Syndikatsopfer, welche das Konsortium aus dem Labor befreit hatte, hatte er ohnehin damit begonnen, eine Heilanstalt hervorzubringen. Von ihm hatte der Engländer auch erfahren, dass Kitty wohlauf war, im Elysium wohnte und dort auch arbeitete. Lazarus hatte eine Handvoll Dinge zusammengepackt und war im Begriff gewesen, Jaana zu Dante zu fahren, damit sie endlich die Hilfe würde bekommen können, die sie so dringend brauchte. Und natürlich auch, um Kitty zu treffen, sich mit ihr ein weiteres Mal auszusprechen.
Ein lautes Klirren hatte die Stille der Nacht zerrissen und von dem Fenster aus, direkt neben der Haustür, auf welche der Vampir zugesteuert hatte, waren ihm Glassplitter und etwas, von dem Lazarus einen Moment lang gedacht hatte, es sei eine Coca-Cola-Dose, entgegengeflogen. Gerade noch so hatte Lazarus realisiert, dass es eine Brandgranate gewesen war und sich der Länge nach hingeworfen, Jaana dabei schützend. Fauchend war der Sprengsatz explodiert und hatte seine Jacke in Brand gesteckt. Das Kleidungsstück war er losgeworden, hatte sich allerdings den linken Arm nicht unerheblich verbrannt. Unweit von ihnen war eine weitere Brandgranate explodiert und schnell hatte das Feuer damit begonnen, sich auszubreiten.
Von draußen hatte er eine furchtbare Stimme schreien hören. LaCroix! Der bretonische Altvampir hatte ihn gefunden! Er war gekommen, sich an ihm zu rächen. Er hatte Lazarus sogar ein Duell angeboten, und es hatte den Engländer Unmengen an Überwindung gekostet, das Angebot auszuschlagen. Nicht, dass er geglaubt hätte, eine Chance gegen den berüchtigten Syndikatskiller zu haben. Es wäre ihm einzig um die Ehre gegangen. Nichts von alle dem aber hatte in diesem Moment etwas bedeutet, nur Jaanas Wohlbefinden hatte für ihn gezählt!
Mittlerweile hatten die Flammen die gesamte Eingangshalle in loderndes Gelb, Orange und Rot gemalt und die Hitze war schier unerträglich geworden. Zwei weitere Brandsätze hatten Fenster zum Bersten gebracht und waren explodiert. Lazarus hatte Jaana an sich gedrückt und auf die Hintertür des Anwesens zugesteuert. Da war eine wahre Hölle losgebrochen: Nicht nur, dass die Flammen alles versengt, verbrannt, verzehrt hatten, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte, nein, jetzt hatte es auch noch Kugeln gehagelt!
Lazarus war seitlich in die Wade getroffen worden und auf die Knie herabgefallen. Das Donnern des Maschinengewehrs, draußen vor seinem Haus, war ohrenbetäubend gewesen. Eine weitere Kugel hatte seine rechte Schulter durchschlagen, und der Vampir war seitlich zu Boden gerissen worden, Jaana dabei fest an sich drückend, ihr beruhigend über den Hinterkopf streichend. Zu keinem Zeitpunkt war ihm bewusst gewesen, wie viel von alle dem seine "Tochter" wirklich mitbekommen hatte. Er hatte versucht, beruhigend auf sie einzureden, während Holzsplitter und Funken auf sie herabgefallen waren, während hunderte von Schüssen über ihre Köpfe hinweggepfiffen waren. Die Luft war voller Qualm, Ascheflocken und Splitterstaub, fein wie Sägemehl gewesen. Lazarus hatte den Geschmack vom Rauch auf den Lippen gehabt, seine eigene Stimme überhaupt nicht mehr gehört.
Endlich eine kurze Verschnaufpause! Lazarus hatte geahnt – und sollte Recht behalten – dass das wummernde Maschinengewehr vor seinem Haus lediglich nachgeladen wurde. Ächzend hatte er sich in einen wackeligen Stand erhoben. Blut war in Strömen aus seinem Bein und seiner Schulter geflossen. Dennoch hatte er die Kraft gefunden, seine Aura komplett zu unterdrücken und sich in den Schattenmantel zu hüllen, um unbemerkt durch die Hintertür und über die dunklen Hügel der Ebony Barrows zu entkommen.
Obwohl er größte Sorge um Jaana gehabt hatte, war er einen Moment lang stehen geblieben, oben auf einem der Hügel, um herabzusehen. Ein Mantel aus Flammen hatte sein Gladsheim umhüllt. Das Anwesen hatte lichterloh gebrannt und war unmöglich zu retten gewesen. Reumütig hatte er an all das zurückgedacht, was er in dem Haus hatte zurücklassen müssen. All die antiken Schätze seines Vaters. Sie würden im Keller zwar sogar mit größter Wahrscheinlichkeit unversehrt bleiben, aber er war sich sicher gewesen, dass LaCroix alles an sich reißen würde, was die Flammen nicht gefressen hatten.
Lazarus würde niemals hierher zurückkehren können, nun da LaCroix diesen Ort gefunden hatte. Dort unten hatte er gestanden, seelenruhig zugesehen, wie das alte Anwesen damit begonnen hatte, in sich zusammenzufallen, während sein hünenhafter, schwarzer Begleiter mit seinem schweren MG das wenige, was vom Gladsheim übrig geblieben war, weiter durchlöcherte. Auch Kittys Schwester, Ella, hatte Lazarus von hier oben ausmachen können. Dies war ebenfalls noch immer ein ungeklärtes Thema, um welches er seine Liebe, Kitty, nicht beneidet hatte.
Er war am Ende seiner Kräfte gewesen, lange bevor er das Elysium erreicht hatte. Die Hälfte des langen Wegs hatte er mit bloßer Willenskraft bewältigt, seinen Körper kaum mehr wahrnehmend. Und dennoch mit der Energie, Jaana zu tragen, ihren Kopf sanft an seiner Brust zu betten und ihr seine freundschaftliche Liebe zu schenken, ihr Versprechen zuzuflüstern, dass alles gut werden würde.
Im Elysium hatte man sich umgehend um Jaana und ihn gekümmert. Seine Wunden waren gesäubert und behandelt worden, seine Wade und der verbrannte, linke Arm einbandagiert, die Schulter und der rechte Arm in einer Schlinge stabilisiert. Vor allem aber war er mit reichlich Blut zum Trinken versorgt worden, um wieder zu Kräften zu kommen. Er war unendlich erschöpft gewesen, doch die Sorge um Jaana hatte ihn wach gehalten.
Dante Scirea hatte Lazarus versichert, dass sich aufopferungsvoll um seine "Tochter" gekümmert werden würde, und ihn endlich beruhigt. Ausschweifend und detailliert hatte er dem Briten erklärt, wie er einen Teil des Sigismund-Freud-Hospitals, der örtlichen psychiatrischen Heilanstalt, speziell für die Syndikatsopfer des Labors hatte einrichten lassen. Die Vorbereitungen waren nahezu abgeschlossen gewesen und wenige Tage später würde Jaana dort endlich die Behandlung erfahren, die sie so dringend brauchte.
Kitty war momentan nicht anwesend und Lazarus war darum froh gewesen. Er hatte nicht gewollt, dass sie ihn so schwer verwundet sehen musste. Nicht schon wieder. Nicht schon wieder durch LaCroix' Hand, die auch sie, Kitty, verletzt hatte, und sich eisern um den Willen ihrer Schwester, Ella, geschlossen hatte. Allerdings hatte Lazarus darum gebeten, dass Kitty ausgerichtet wurde, wie froh er darum war, dass es ihr gut ging.
Einige Tage lang hatte Lazarus sich in den Gästeräumen des Elysium erholt und in dieser Zeit einige Gespräche mit Dante und auch Rebecca geführt. Es hatte ihn mit Stolz erfüllt, wirklich zum engsten Kreis der Konsortiumsspitze in Venedic gezählt zu werden, in alle möglichen Geheimnisse eingeweiht zu werden, auch wenn er niemals vergaß, dass er nicht viel mehr, als ein glorifizierter Fußsoldat war.
Die Schätze, welche sein Vater über Jahrhunderte hinweg angesammelt hatte, waren Lazarus an LaCroix verloren gegangen. Nicht so allerdings das viele, viele Erbgeld, das auf seinem Konto lange nahezu unberührt geschlummert hatte. Er hatte es alles gespendet, ans Konsortium als Ganzes, vor allem aber in die Einrichtung, in welcher Jaana behandelt werden würde. Nur ein paar Hunderttausend Dollar hatte er liquide gemacht, um sich eine kleine Existenz im Verborgenen aufbauen zu können, mit einem kleinen Ladengeschäft und einer geräumigen Eigentumswohnung.
Um nicht wieder so leicht von LaCroix und seinen Schergen gefunden zu werden, hatte er seinen Namen vorrübergehend zu Grayson Kincaid geändert und begonnen, sich als Amerikaner aus der Bostonarea auszugeben. Den Akzent hatte er sehr schnell perfekt raus, wobei ihm sein tadelloses Irisch eine starke Hilfe gewesen war. Seine Wohnung, im ersten und zweiten Stock über seinem Geschäft, lag am Rand des verwinkelten Rotlichtmileus, nahezu unsichtbar, wenn man nicht wusste, wonach man zu suchen hatte. Es lag im Gewirr der Innenstadt, war klein und unauffällig, viel schwerer zu finden, für seine Häscher, als das Anwesen in den 'Barrows, in welchem er zuvor gelebt hatte.
Lazarus, der das Uhrmacherhandwerk im ausgehenden, neunzehnten Jahrhundert von einem französischen Meister, Jean-Baptiste Gallemand, in dessen Pariser Horlogerie erlernt hatte, hatte in einer mehrwöchigen Schaffensperiode gut drei Dutzend Taschen- und Armbanduhren angefertigt, unzählige weitere angekauft, um sie in seinem neuen Laden an den Kunden zu bringen.
Direkt oberhalb des Ladenlokals hatte er zwei Stockwerke bezogen und diese gemütlich aber hochwertig eingerichtet, was man dem Haus von außen kaum zugetraut hätte. Er hatte auf der Frontalseite Fenster, die ihm das geschäftigste Treiben Venedics zeigten. Hier war er am Puls der Stadt, nahe der Innenstadt und des niemals schlafenden Rotlichtmileus. Auf der Rückseite hatte er Sicht auf den Kanal und die dahinter liegenden Wohngebiete. Die unheilvollen Ebony Barrows konnte man von hier aus nicht sehen und darum war er froh. Er besaß auf der Rückseite des Hauses auch einen Balkon, auf welchem man sich von den kühlen Brisen und dem Plätschern des Kanals verwöhnen lassen konnte.
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Jetzt, ein halbes Jahr nachdem er Jaana aus den erbarmungslosen Klauen des Syndikats befreit hatte, war er beinahe so weit, seinen Uhrenladen zu eröffnen. Er hatte ein Inserat in der Venedic Post drucken lassen, dass Bewerber um den freien VerkäuferInnenposten jederzeit vorbeikommen durften, und nur zu klingeln brauchten, um von ihm in Empfang genommen zu werden. Er hatte in der Anzeige behauptet, dass er erst nach offiziellem Ladenschluss Bewerber begrüßen würde - also nach 20:00 Uhr. Irgendwie musste er ja rechtfertigen, warum man ihn erst nach Sonnenuntergang zu Gesicht bekam.
Es war recht früh am Abend, die kürzlich Untergegangene Sonne hatte einen Grauschleier mit Pastellrosé auf dem dunklen Wasser des Kanals hinterlassen. Er saß an der Rückseite des Gebäudes auf seinem Balkon im ersten Obergeschoss und ließ sich die leichte Brise des rauschenden Gewässers um die Nase streichen. Durch das schwarzmetallene, gusseiserne Geländer mit den schönen Floralmusterungen sah er eine der altmodischen Gondeln auf dem Kanal treiben. Zwei junge Verliebte tauschten auf dem Wasser geflüsterte Versprechen und kleine Küsschen aus.
Lazarus trug eine dichte, schwarze Stoffhose, dunkelbraune, lederne Anzugschuhe und einen dazu passenden Gürtel. Die Messingschnalle lugte unter seinem schwarzen Longsleeve hervor, das sich eng an ihn schmiegte und seine trainierten Arme und den unlängst kräftiger gewordenen Brustkorb betonte. Die Ärmel hatte er bis unter die Ellbogen hochgekrempelt. Seine dunklen Haare waren am Hinterkopf zusammengefasst und hingen ihm, zur Hälfte offen, zur Hälfte im Zopf, bis zwischen die Schulterblätter. Er saß zurückgelehnt in einem harten Stuhl aus dunklem Holz und Eisen, ein Fachbuch zum Thema Uhren in der linken Hand und ein langstieliges Glas mit kühlem Blut gefüllt in der Rechten.
Gestern hatte er eine Weile lang Angst gehabt, dass er die Klingel neben seiner Ladentür hier draußen nicht würde hören können, dass es vielleicht daran gelegen hatte, dass er keine Bewerberin oder einen Bewerber hatte begrüßen dürfen. Dann aber war eine Lieferung eingetroffen. Eine Kiste voller Kleinteile, Zahnräder, rohe, unbearbeitete Gehäuse, Ziffernblätter und so weiter, und so fort.
Es mochte an der Lage liegen – obwohl diese überaus hübsch anzuschauen war – so nahe am Rotlichtbezirk. Die Bezahlung war extrem gut; während der Durchschnitt für den Verkauf am Tresen bei etwa neun Dollar lag, bot Lazarus mit 17 Dollar beinahe das Doppelte. Vielleicht hatte er einfach Pech gehabt. Es war ja heute auch erst der zweite Tag, seit er die Anzeige aufgegeben hatte. Geduld konnte auch eine seiner Tugenden werden, schätzte er.